Pandora's Box

Drama | Türkei/Frankreich/Deutschland 2008 | 112 Minuten

Regie: Yesim Ustaoglu

Eine alte Frau in einem Bergdorf am Schwarzen Meer ist an Alzheimer erkrankt und wird von ihren drei erwachsenen Kindern nach Istanbul geholt. Da aber keiner der drei wirklich Zeit und Energie für sie hat, landet sie in einem Pflegeheim. Einzig ihr Enkel scheint einen Zugang zu ihr zu finden. Das Drama entfaltet sich in sorgfältigen, konzentrierten Bildern, die den mannigfachen Folgen der Modernisierung der türkischen Gesellschaft nachspüren. Grandiosen filmischen Momenten steht manche Unbestimmtheit im Detail entgegen, insbesondere in der typologischen Charakterisierung der Städter. (O.m.d.U.) - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
PANDORA'NIN KUTUSU
Produktionsland
Türkei/Frankreich/Deutschland
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Ustaoglu Film Yapim/Silkroad Prod./Les petites lumières/Stromboli Pic./The Match Factory
Regie
Yesim Ustaoglu
Buch
Selma Kaygusuz · Yesim Ustaoglu
Kamera
Jacques Bessé
Musik
Jean-Pierre Mas
Schnitt
Franck Nakache
Darsteller
Tsilla Chelton (Nusret) · Derya Alabora (Nesrin) · Onur Ünsal (Murat) · Övül Avkiran (Güzin) · Osman Sonant (Mehmet)
Länge
112 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Heimkino

Die Extras umfassen u.a. den Kurz-Dokumentarfilm "Life on Their Shoulders" von Yesim Ustaoglu (39 Min.).

Verleih DVD
Trigon (16:9, 1.85:1, DD2.0 türk.)
DVD kaufen

Diskussion
Der Titel spielt auf den von Hesiod überlieferten Mythos der verderblichen Mitgift an, auf jene Büchse, aus der alles Schlechte in der Welt entspringt. Pandora, die „Allgeberin“, bringt ein Gefäß mit in die Ehe, das unter keinen Umständen geöffnet werden darf. Die Götter aber bestehen nur deshalb so nachdrücklich auf dem Verbot, weil sie das genaue Gegenteil bewirken wollen: Alle Plagen, Laster und Untugenden, die daraus über die Menschheit kommen, sind nichts anderes als ihre durchtriebene Rache für den Raub des Feuers durch Prometheus, der das Menschengeschlecht näher an die Götter heranrücken lässt. Ganz so simpel können heute die Kosten des Fortschritts nicht mehr unter den Geschlechtern verrechnet werden, selbst wenn die türkische Autorenfilmerin Yesim Ustaoglu am patriarchalen Gefälle der türkischen Gesellschaft keinen Zweifel lässt. Die drei Geschwister, die mit dem Auto aus Istanbul ans Schwarze Meer fahren, um ihre in den Bergen verschwundene Mutter zu suchen, stranden unterwegs in einer Taverne. Während ihr Bruder Mehmet bald in die Runde der Raki trinkenden Männer aufgenommen wird, müssen Nesrin und Güzin mit dem Katzentisch vorlieb nehmen. Die Szene ist auch deshalb sinnfällig, weil es beide Frauen ökonomisch in den Mittelstand geschafft haben, während Mehmet als kiffender Taugenichts charakterisiert wird, der auf die Unterstützung der Schwestern angewiesen ist. Doch das Gender-Thema spielt nur eine untergeordnete Rolle; die bildmächtige Chiffre bezieht sich vielmehr auf fundamentalere Verwerfungen moderner Gesellschaften, welche die wortlose Eröffnungssequenz eindringlich präludiert. In einer mächtigen Totalen streicht die Kamera zärtlich über ein Bergdorf und nimmt eine alte Frau, Nusret, in den Fokus, die irritiert ihre Arbeit sinken lässt und verwirrt um sich schaut. Im extremen Kontrast zur ländlichen Weite wirft der Gegenschnitt in eine graue Hochhaussiedlung in Istanbul, wo aus der Tiefe der Straßenschluchten der Verkehrslärm dumpf nach oben schallt. In diesem Gebirge aus Beton und Glas leben Nusrets Kinder seit Jahrzehnten, jedes für sich in seiner separaten Welt. Die Autonomie und der bescheidene Wohlstand der neuen Bürgerlichkeit fordern freilich ihren Preis: den Verlust gewachsener soziale Netze. Am augenfälligsten wird dies im zentralen Handlungsstrang um die an Alzheimer erkrankte Mutter, die nicht mehr allein in ihrem Dorf bleiben kann. Also verfrachten die drei sie kurzerhand in die Großstadt, in die sterile Anonymität der Wohnsilos, wo sie die ältesten Tochter vor dem lärmenden Fernseher „parkt“, wenn sie die Wohnung verlässt. Wie ein desorientierter Paradiesvogel schlurft die alte Frau dann übers Laminat, verheddert sich in den Jalousien oder verrichtet ihre Notdurft im Stehen, nutzt aber mit erstaunlicher Zielstrebigkeit jede Gelegenheit, um ihrem Käfig zu entkommen. Bei der zweiten Tochter würde sich Nusret wohler fühlen, doch stört sie deren konfliktreiches Liebesleben, weshalb sie auch in Mehmets Behausung landet und schließlich im Pflegeheim. Nur ihr Neffe Murat scheint Zeit und ein Herz für seine Großmutter zu haben. Er entführt sie aus dem Heim und nimmt sie auf den Bosporus mit, was die Lebensgeister der alten Frau weckt und in einen einzigen Wunsch mündet: ein letztes Mal in ihr Dorf zurückzukehren. Erzählt wird das primär über sorgsam kadrierte, konzentrierte Bilder und weitgehend ohne Dialoge, die in ihrer reduzierten Form eher als emotionale Ventile fungieren, wenn lange angestaute Gefühle aus den Protagonisten hervorbrechen. Ustaoglus puristische Filmsprache lässt unwillkürlich an Stärken und Schwächen der „Berliner Schule“ denken, denn auch hier zielt die Ästhetik des durch eine ausgefeilte Akustik geradezu plastisch entfalteten Filmraums auf eine aktive, erschließende Rezeption, die im Vorverständnis des Zuschauers ihre Grenze findet. Grandiosen filmischen Momenten steht deshalb auch hier manche Unbestimmtheit im Detail gegenüber; so lassen sich die Verwurzelung in der ländlichen Natur und eine damit gegebene bodenständige Überschaubarkeit der Lebenswelt für viele leichter nachvollziehen als die Verkrustungen des Urbanen. Ustaoglu hütet sich zwar vor einer Verklärung der Provinz, doch die Erosionen der großstädtischen Charaktere treten weit stärker – und klischeehafter – vor Augen. Wo in den grünen Hügeln eine Soundcollage identifizierbarer Naturgeräusche reicht, um dem Schwenk über Ziegeldächer pulsierend warmes Leben einzuhauchen, genügt der verweilende Blick zur Charakterisierung defizitär-„moderner“ Persönlichkeit keineswegs. Die im Titelbild angedeutete Ambivalenz, Wohlstand und entfaltete Individualität mit mannigfachen Konzessionen, Neurosen und (Klassen-)Konflikten zu erkaufen, tendiert in den dargestellten Schicksalen der Städter zu einer gewissen Schablonenhaftigkeit, die ins Typologische ausweicht, wo doch Konkretion und Genauigkeit gefragt wären.
Kommentar verfassen

Kommentieren