Drama | Frankreich 2009 | 96 Minuten

Regie: Sophie Laloy

Eine junge Frau beginnt ein Klavierstudium in Lyon und zieht zu einer alten Freundin, die sich in ihrer scheinbaren Souveränität von der unsicher-kindlichen Musikstudentin unterscheidet. Deren Wunsch, sich an der Selbstständigeren zu orientieren, nimmt bald besitzergreifende Züge an. Als erotisches Begehren ins Spiel kommt, droht sich das Verhältnis von Stärke und Schwäche, Selbstständigkeit und Abhängigkeit umzukehren. Das sich zum Noir-Drama verdichtende Porträt einer obsessiven Beziehung, das auf eindeutige Rollenzuschreibungen und Machtkonstellationen verzichtet, um die Unberechenbarkeit der Figuren bis zum Schluss spannend offen zu halten. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
JE TE MANGERAIS
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
ICE 3/Studio 37/Rhône-Alpes Cinéma
Regie
Sophie Laloy
Buch
Sophie Laloy · Jean-Luc Gaget · Eric Veniard
Kamera
Marc Tevanian
Schnitt
Agathe Cauvin
Darsteller
Judith Davis (Marie) · Isild Le Besco (Emma) · Johan Libéreau (Sami) · Edith Scob (Mademoiselle Lainé) · Cécile Laloy (Lucie)
Länge
96 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16 (DVD)
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama

Heimkino

Verleih DVD
Salzgeber (16:9, 1.78:1, DD2.0 frz.)
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Diskussion
„Je te mangerais“, lautet der drastische Titel im französischen Original: „Ich würde dich aufessen.“ Doch „Emma und Marie“, das Regiedebüt von Sophie Laloy, ist kein Vampirfilm, auch wenn durchaus verwandte Themen verhandelt werden: Es geht um Aneignung und Vereinnahmung, um obsessives Begehren und den Wunsch, sich das Objekt der Begierde förmlich „einzuverleiben“. Das Verhältnis zwischen Emma und Marie steht von Beginn an auf unsicherem Boden. Die beiden Frauen waren einst Freundinnen, doch das liegt lange zurück. Emma hat früh das gemeinsame Dorf verlassen, um in Lyon Medizin zu studieren, Marie ist zurückgeblieben. In der Zwischenzeit ist das Vertraute zwischen den beiden fremd geworden. Umso anziehender ist das Fremde – ein allzu leichtfertiges Angebot für allerhand Projektionen. So deutet Marie, die zu Beginn des Films in Emmas große und dunkle Wohnung einzieht, deren Bestimmtheit und Kühle als Ausdruck von Stärke und Autonomie. Denn während sie sich gerade erst aus engen familiären Bindungen zu lösen beginnt, ist die Freundin, so scheint es jedenfalls, schon längst im Erwachsensein angekommen. So drückt sich die Differenz zwischen den Frauen schon auf den ersten Blick im unterschiedlichen Look aus, was Laloy mit großer Sorgfalt inszeniert. Emma hat einen eigenen Stil, er ist ausgewählt und von „cooler“ Souveränität, während Maries Kleidung noch kindlich wirkt, wie von der Mutter ausgesucht. Als sie am ersten Tag das Konservatorium besucht, wo sie ein Klavierstudium beginnt, wirkt sie in ihrem provinziellen Blümchenkleid wie eine echte Landpomeranze. Wenig später kauft sie sich eine Jeans, man ahnt, dass es ihre erste überhaupt ist, und durchaus nicht zufällig von selbem Label, das Emma trägt. Marie braucht zur Selbstfindung eine Vorlage, wobei ihre Annäherung an die Freundin anfangs etwas Voyeuristisches, Übergriffiges hat. Dass sie Emmas strenge Regeln – kein Besuch von Freunden, das Klavier hat im Wohnzimmer zu stehen, gegessen wird gemeinsam – so widerspruchslos akzeptiert, zeigt ihre Naivität und ihr regressives Bedürfnis, noch immer bemuttert zu werden. Kompliziert wird es, als Marie der erotischen Anziehung für Emma nachgibt und ihre Gefühle dabei ungeklärt bleiben. Es gefällt ihr, und es gefällt ihr nicht. Marie ist von einem diffusen und ungerichteten Begehren geleitet, das sich mal auf Emma, mal auf einen Kommilitonen und nicht zuletzt auf sich selbst richtet. Hinter Emmas Fassade brechen plötzlich Einsamkeit und Verletztheit hervor. Wer in dem beginnenden Verhältnis welche Rolle spielt, ist nicht immer leicht auszumachen, und genau das ist die Stärke und Intelligenz dieses Films. Er stellt Beziehungen nicht als ein gut sortiertes Rollenspiel dar, sondern als kompliziertes Gefüge aus Wünschen, Abgrenzungen und Verwerfungen. Ein Gefüge, in dem die Positionen zwar festgefahren sein können, aber ebenso schnell wieder verschwimmen oder durcheinander geraten. Für Marie wird das zunehmend neurotische Verhältnis jedenfalls zur ernsthaften Gefahr, für ihre Identitätssuche und auch für ihr Studium, über das sie langsam die Kontrolle verliert. Die Atmosphäre in der Wohnung wird dabei immer klaustrophobischer; der Film entwickelt sich zum düsteren Noir-Drama. Ein bisschen wirkt Emma nun wirklich wie eine Vampirfigur, ihr Begehren wird maßlos, ihr Körper scheint davon völlig überwältigt zu sein. In ihrer Zwanghaftigkeit erinnert sie entfernt an die Figur der „Klavierspielerin“ (fd 35 070), wobei Laloys Film nicht Michael Hanekes Fatalismus teilt. Die Konstellationen sind beweglich, und der Verlauf der Geschichte hat in keinem Moment etwas Vorhersehbares. „Emma & Marie“ ist kein Lehrstück über Macht und Abhängigkeit innerhalb von Beziehungen, im Gegenteil. Er erklärt nicht, sondern zeigt, was nicht erklärt werden kann, wenn es um Liebe und Begehren geht.
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