Oscar Niemeyer - Das Leben ist ein Hauch

Dokumentarfilm | Brasilien 2007 | 85 Minuten

Regie: Fabiano Maciel

Porträt des Architekten Oscar Niemeyer (geb. 1907), das weniger die Lebensstationen des Wegbereiters der modernen brasilianischen Architektur als die einzelnen Werke in den Mittelpunkt stellt. Chronologisch strukturiert und mit experimenteller Bossa-Nova-Musik unterlegt, entsteht das Bild eines widersprüchlichen Künstlers. Politisch neuralgische Punkte seines Werdegangs werden dabei zwar etwas stiefmütterlich behandelt, ebenso wie Niemeyers Einfluss auf jüngere Architekten, als Hommage an und als Einblick in Niemeyers Werk glänzt der Film jedoch mit Bravour. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
OSCAR NIEMEYER - A VIDA É UM SOPRO
Produktionsland
Brasilien
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
Santa Clara Comunicação/Fundação Oscar Niemeyer
Regie
Fabiano Maciel
Buch
Fabiano Maciel
Kamera
Jacques Cheuiche · Marco Olivera
Musik
João Donato
Schnitt
Joana Collier · Jordana Berg · Nina Galanternick
Länge
85 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0 (DVD)
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Salzgeber (16:9, 1.78:1, DD2.0 port.)
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Diskussion
Wie nähert man sich einer Jahrhundert-Gestalt wie Oscar Niemeyer? Einem Architektur-Titanen, der mit 102 Jahren in seinem Büro mit Blick auf den Strand der Copacabana immer noch aktiv ist? Der brasilianische Regisseur Fabiano Maciel und sein Produzent Sacha haben angesichts der Größe ihres Gegenstands kapituliert und den Weg der stummen Huldigung gewählt. Anstatt sich aus dem Off in Lobpreisungen zu ergehen, lassen sie für ihre in zehnjähriger Arbeit entstandene Dokumentation den Meister selbst das Wort ergreifen. Und das reichlich. Mal gibt er sich müde und maulfaul, mal kokettiert er mit seiner Vergesslichkeit. Dazwischen glänzt er als ungebremster Erzähler, der nicht auf Pointen, sondern Klartext setzt. Die Schatten seines mitunter auch widersprüchlichen Charakters bekommen so zwar kaum Kontur, dafür aber wird seine Lebensphilosophie umso greifbarer. „Ich bin wie einer dieser alten Pessimisten“, gibt die Legende zu Protokoll. „Ich glaube, dass das Leben nur einen kurzen Augenblick währt. Der einzelne Mensch ist nicht wichtig, er wird geboren und stirbt. Er muss seinen Blick zum Himmel erheben und fühlen, wie klein er ist. Er muss bescheiden sein und wissen, dass nichts wirklich wichtig ist. Das Leben ist ein Hauch, nur ein kurzer Augenblick.“ Den gilt es zu nutzen, mit über 600 erbauten Gebäuden und unzähligen Entwürfen, die in der Schublade verschwanden. „Klein“ und „bescheiden“ sind auch nicht gerade die Attribute, die man dem meinungsfreudigen Verehrer „großer Männer“ vom Schlage eines Sartre oder Fidel Castro attestieren möchte. Das Bauhaus nennt er ein „Paradies der Mittelmäßigkeit“, die Vorwürfe, seine futuristische Architektur sei nicht funktional, weist er gelangweilt ab. Kein Wunder, schließlich haben seine Arbeiten auch nach 70 Jahren ihre verblüffende Wirkung nicht eingebüßt; was auch daran liegen mag, dass er sich immer bildenden Künstlern mehr verbunden fühlte als Stadtplanern. Sie spiegeln einen auf wagemutige Einzigartigkeit setzenden Geniebegriff wider, der sich in das linke Kollektivdenken zwar nur schwer integrieren lässt, dem bis heute bekennenden Kommunisten Niemeyer aber keinerlei Identitätsprobleme bereitet. Zu guter Letzt schimmert der Epikureer durch, der den einfachen Menschen in ihrem grauen Alltag Schönheit, Überraschung und Sinnlichkeit schenken will. Spätestens jetzt ist man versöhnt mit der verwirrenden Flexibilität seines Weltbilds und sieht über manche machistische Entgleisung hinweg. Die große Stärke des Films ist die Muße und Genauigkeit, mit der er die revolutionären Ideen des letzten lebenden Vertreters der klassischen Moderne vermittelt. Immer wieder sieht man ihn im Innern seiner Bauten spazieren gehen oder beim Nachzeichnen und Erklären der Entwürfe. In der Erinnerung werden sie auf wenige Linien, Kurven und fließende Formen reduziert. Ihre Vorzüge sind evident: Von Normierung und Monotonie keine Spur, räumlich großzügig schweben die bewohnbaren Skulpturen als soeben gelandete Flugobjekte über der sonnendurchfluteten Landschaft. In der Konfrontation vor Ort vermitteln sie durch den Blick der sanft gleitenden Kamera den Eindruck einer kindlich enthemmten Gestaltungsfreiheit. Dabei sind es weniger die Lebensstationen als die einzelnen Werke, die im Mittelpunkt des chronologisch strukturierten, mit experimenteller Bossa-Nova-Musik von João Donato unterlegten Porträts stehen. Zusammen mit seinem Freund und Mentor Lúcio Costa und dem Moderne-Guru Le Corbusier plante der Nachwuchsarchitekt 1937 das Erziehungsministerium in Rio als ersten großen Wurf. Um nicht als einfallsloser Jünger des strengen Rationalisten zu enden, unterzog er seine Entwürfe einer tropischen Wärmetherapie. Das Ergebnis waren Schwungskulpturen, die mitunter an intergalaktische Pythonschlangen erinnern. Ein wahrer Triumph gelang ihm dann mit der Reißbrett-Hauptstadt Brasília. Von 1957 bis 1960 wurde sie aus der Steppe der brasilianischen Hochebene gestampft. Hier finden sich auch die meisten Bilddokumente in Form von Werbekampagnen und Fernsehreportagen. Sie erzählen euphorisch vom damaligen Zeitgeist gelebter Utopie und dem schwierigen Unterfangen, Bewohner in die Retortenstadt zu locken. Der Präsidentenpalast „Alvorada“ oder der Riesenkelch für das Parlament sind weitere Regierungsbauten, die sich einer neuen Zeichensprache verschrieben und den beliebig formbaren Werkstoff Beton favorisierten. Leider bleibt der politische Kontext dieser für die brasilianische Moderne schillernden Epoche, die mit dem Militärputsch 1964 endete und Niemeyer ins französische Exil zwang, seltsam unterbelichtet, wie auch sein schwärmerisches Engagement für den Kommunismus keinerlei kritische Nachfragen erfährt. Was ebenfalls fehlt, sind Statements heutiger Architekten, etwa Zaha Hadid, deren ähnlich gewagte Ästhetik von Niemeyer beeinflusst ist. Immerhin fügen sich die Zeitzeugen bestens in den Rahmen der vor allem für Studienzwecke von Architekturstudenten geeigneten Selbstbespiegelung. „Es ist ja bekannt, dass Oscar den Kapitalismus hasst, genauso wie den rechten Winkel“, bringt der Schriftsteller Eduardo Galeano die Überzeugungen seines Freundes so lakonisch wie poetisch auf den Punkt. Dessen luftige Architektur sei „ähnlich den Bergen von Rio de Janeiro, die liegenden Frauenkörpern gleichen, erschaffen von Gott an dem Tag, als er sich für Niemeyer hielt“.
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