Der Räuber (2009)

Drama | Österreich/Deutschland 2009 | 98 Minuten

Regie: Benjamin Heisenberg

Soeben erst aus dem Gefängnis entlassen, macht ein ehemaliger Bankräuber mit dem weiter, was seine Existenz bestimmt: Marathonlaufen und Rauben. Daran kann auch die Begegnung mit einer Jugendfreundin nichts ändern. Aus der Verbindung von Bankräuberfilm und kühler Beobachtung entsteht das mit perfekt choreografierten Bewegungssequenzen glänzende, spannungsvolle Porträt einer extremen Persönlichkeit, die bis auf ihre zwei an Besessenheit grenzenden Leidenschaften dem Leben gegenüber eher gleichgültig erscheint. In der Getriebenheit des Protagonisten spiegeln sich die Probleme einer neoliberalen Leistungsgesellschaft. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
DER RÄUBER
Produktionsland
Österreich/Deutschland
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
Nikolaus Geyrhalter Filmprod./Peter Heilrath Filmprod./ZDF/ARTE
Regie
Benjamin Heisenberg
Buch
Benjamin Heisenberg · Martin Prinz
Kamera
Reinhold Vorschneider
Musik
Lorenz Dangel
Schnitt
Andrea Wagner · Benjamin Heisenberg
Darsteller
Andreas Lust (Johann Rettenberger) · Markus Schleinzer (Bewährungshelfer) · Roman Kettner (Pensionsportier) · Hannelore Klauber-Laursen (Bankkassiererin) · Tabea Werich (junge Frau vor dem Supermarkt)
Länge
98 Minuten
Kinostart
04.03.2010
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Heimkino

Verleih DVD
Zorro (16:9, 1.78:1, DD5.1 dt.)
DVD kaufen

Diskussion
Er läuft und läuft und läuft. Am Anfang sieht man ihn nur von hinten. Da läuft er auf einem Laufband, und schnell wird verständlich: Er läuft vor etwas weg. Bald darauf ist auch klar: Johann Rettenberger (herausragend zwischen Sturheit und Verzweiflung gespielt von Andreas Lust) ist noch im Gefängnis. Doch auch am Tag vor seiner Haftentlassung trainiert er bis zum Umfallen. Bald weiß man warum: Er macht mit beim Wiener Stadtmarathon, auf Anhieb gewinnt er das Rennen und eine hohe Geldsumme. Geld scheint ihn besonders zu interessieren: Ins Gefängnis kam er, weil er einst eine Bank überfiel, und bald macht er wieder da weiter, wo er aufgehört hat. Bei den Überfällen hat er ein versteinertes Maskengesicht, es erinnert an eine Kabuki-Maske, wirkt gleichgültig und ausdruckslos, wie sein eigenes. Und er hat dunkle Geheimnisse. Dazu gehört Erika, jene Frau, bei der er wohnt: eine Spätgeborene, offenkundig aus gutbürgerlicher Familie. Ihre große, alteuropäisch möblierte Wohnung ist wie eine Höhle für den Wolf, aber auch ein Mutterleib, in den er sich verkriecht; Zufluchtsort im doppelten Sinn, wie sie eine Zufluchtsfrau ist: Geliebte und Schwester, Freundin und Mutter. „Der Räuber“, Benjamin Heisenbergs zweiter Spielfilm nach „Schläfer“ (fd 37 588), fußt auf einer „wahren Geschichte“, die in den 1980er-Jahren in Österreich Schlagzeilen machte; aber das spielt für den Film, der eine grundsätzlich dokumentierende, realistische Erzählweise hat und doch ganz und gar Spielfilm ist, keine Rolle. Es ist hervorragendes, spannendes und kluges, emotional mitreißendes. perfektes Kino. Vordergründig handelt es sich um einen Kriminal- und Bankräuberfilm, glänzend inszeniert in den Actionszenen und Verfolgungsjagden, ein Paradebeispiel für dynamisches, oft elegantes Bewegungskino. Zugleich knüpft er an jene Porträts einsamer Männer in mehr oder weniger existenziellen Krisen, wie man sie aus Filmen von Jean-Pierre Melville kennt. Doch Rettenbergers Zorn, der ihn innerlich antreibt, hat kein Ziel, kein Klassenbewusstsein. Rettenberger ist ein Profi, aber er bildet sich nichts darauf ein. Mehr als ein Könner ist er ein Mann ohne Eigenschaften. Blickt man hinter diese Oberfläche, erkennt man in der Figur einen Getriebenen, der zwar als Gangster ein Außenseiter ist, zugleich aber auch das präzise Abbild eines Charaktertypus unserer kapitalistischen Leistungsgesellschaft: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“, fragte Brecht. Der Bankräuber ist der schwarze Spiegel der Bank; eine Parallelexistenz zum Typus jener Banker, die er beraubt: Beiden geht es ums Geld, um immer mehr Geld, wie dieser kann er nie genug bekommen, verlangt auf allen Ebenen von sich selbst Höchstleistungen und Rekorde. Er handelt riskant, wie die Investmentbanker an der Börse: Wenn sich eine Gelegenheit eröffnet, muss man zugreifen, sonst hat man versagt. Zumindest vor sich selbst. Wie die Banker ist er ein asketischer Charakter, der immer nur rafft, das Leben aber nicht genießt, das geraubte Geld nicht ausgibt, dabei freudlos wirkt, selten glücklich ist, seinen Mitmenschen gegenüber verschlossen und arrogant – eine elitäre Mönchsexistenz. Man kann Rettenberger also als exemplarische Figur für eine Gesellschaft am Rand des Nervenzusammenbruchs begreifen, die von ihren Mitgliedern immer mehr fordert, die in Hast, Hektik und Selbstkasteiung, unfähig zum Genuss, zum relaxten Leben dahin schreitet und dabei von unfassbarer Einsamkeit erfüllt ist. Man identifiziert sich nicht mit ihm, aber man kennt jede Situation. Geld spielt keine Rolle, aber im anderen Sinn: Der Räuber erfüllt sich keinen Wunsch, weil er vermutlich gar keine Wünsche hat. Auch das macht ihn zum hypermodernen Menschen par excellence: Das zum Marathon übersteigerte „Laufen“ ist wie das Geldverdienen eine moderne Sucht, ein Genuss des Sich-Versagens, des Verschwindens. Hier kommunizieren Körper und Mensch nur noch mit sich selbst, weil Rettenberger keine Wünsche hat, hat er auch keine Ziele am Ende seines Fluchtwegs. Es geht um den Weg selbst. Er will laufen, um sich zu spüren. Darin unterscheidet sich der Charakter von Peckinpahs „Getaway“ (fd 18 305), mit dem er ansonsten manches gemeinsam hat: Die Hauptfigur hat ein Ziel. Dieser hat nur den Weg. Am Ende führt er ins Offene. Plötzlich verlangsamt sich die Bewegung, Rettenberger sitzt im Auto, die Autobahn ist leer, irgendwie scheint er zur Ruhe gekommen. Ob man es Befreiung nennen soll, oder Erlösung? Die Hauptfigur käme ihm, Heisenberg, manchmal vor wie ein Wolf; deswegen sei der Film teilweise „wie ein Tierfilm“ gedreht. Nun leben Wölfe freilich im Rudel und sind höchst soziale Wesen, was Rettenberger beim besten Willen nicht ist. Heisenbergs Film ist sowohl das Porträt eines Einzelgängers als auch das einer neoliberalen Wolfsgesellschaft, ihrer Ideale und, noch mehr, ihrer verborgensten Wünsche.
Kommentar verfassen

Kommentieren