Hochburg der Sünden

Dokumentarfilm | Deutschland 2008 | 79 Minuten

Regie: Thomas Lauterbach

Dokumentarfilm über die Proben zur "Medea"-Inszenierung von Volker Lösch am Stuttgarter Nationaltheater 2008, bei dem ein Chor aus türkischen Laiendarstellerinnen die Rolle der Titelfigur übernahm. Im Zentrum steht die einzige "Kopftuchträgerin" der Gruppe, die mit den Auseinandersetzungen in der Gruppe nicht Schritt halten kann. Als sie sich gegen das "Medea"-Projekt wendet, gerät der bis dahin dokumentarisch vorbildlich aufbereitete Film in eine Schieflage, berührt jedoch selbst noch als Torso und ermöglicht erhellende Einblicke. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Indi Film/SWR
Regie
Thomas Lauterbach
Buch
Thomas Lauterbach
Kamera
Gunther Merz
Musik
Zülfü Livaneli · Hasan Yurtseven
Schnitt
Dominique Geisler
Länge
79 Minuten
Kinostart
11.03.2010
Fsk
DVD: ab 12
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Mindjazz/Al!ve (FF, DD2.0 dt.)
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Diskussion
Aysel Kilic ist eine „deutsche Türkin“ und fromme Muslima, die es im Sommer 2008 aus einer Mischung aus Langeweile und Neugier ans Staatstheater Stuttgart verschlug. Dort bereitete der Regisseur Volker Lösch gerade eine Neuinszenierung der „Medea“ nach Euripides vor. Der für seine pointierten Provokationen bekannte Lösch nutzte die antike Vorlage als Folie für eine Auseinandersetzung mit dem Patriarchat, fokussiert im Spiegel der Lebenswirklichkeit türkischer Immigrantinnen. Dazu besetzte er die Titelfigur mit 19 Frauen, unter ihnen 16 Laiendarstellerinnen, die nicht nur als Chor, sondern entscheidend auch an der Textfassung mitwirkten. Zu Beginn der Proben ließ er sie ihre individuellen Erfahrungen mit Gewalt und Unterdrückung niederschreiben und „sampelte“ daraus eine erschütternde Kompilation als „Libretto“ für den Medea-Chor. Was für den Regisseur ein „Trick“ war, um in die Erfahrungswelt muslimischer Frauen vorzudringen, verwandelt sich in den Proben in ein Art Purgatorium, da die auf Papier gebannten Erinnerungen zu neuem, kollektiv verstärktem Leben erwachten. Mit sympathischer Nähe schildert der Dokumentarfilm, wie sich in diesem Prozess verdrängte Demütigungen, Schläge und Schmerzen Bahn brechen, vom Assistenten forciert und zugespitzt, eine brachiale „Therapie“ ohne Therapeut, von den meisten gleichwohl als Akt spielerischer Befreiung und Selbstbehauptung erlebt. Nur eine der Freizeit-Miminnen wird immer stiller: Aysel, die einzige Kopftuchträgerin unter den schwäbelnden Türkinnen. Obwohl die lebensfrohe, humorvolle Mutter von drei herangewachsenen Kindern in der Gruppe schnell Kontakt findet, wirkt sie zunehmend in die Enge getrieben. Männer seien bessere Menschen, bricht es aus ihr heraus, um die Angriffe auf ihr Weltbild abzuwehren, oder dass viel Unheil nur deshalb geschehe, weil die klaren Regeln und Gesetze des Korans missachtet würden. Doch die mehrmonatigen Proben gehen auch an ihr nicht spurlos vorbei. Ob das Stück sie denn nicht verändere, will eine der Frauen wissen; darauf antwortet Aysel nicht, aber man sieht auf ihrem Gesicht, wie schwer es in ihr arbeitet. Die Konsequenzen, die sie daraus zieht, sind ein abrupter Bruch. Aysel geht zum Gegenangriff über, ereifert sich über das Theater als „Hochburg der Sünden“ und zettelt kurz vor der Uraufführung einen (folgenlosen) Aufstand der Darstellerinnen an: die Unzüchtigkeit der Inszenierung beschädige das Bild der türkischen Frau. Auch der Film ist von Aysels „Wende“ überfordert, obwohl er seine beeindruckende teilnehmende, ohne Interviews auskommende Erzählweise über den Haufen wirft, um mit dem Geschehen Schritt zu halten. Aysel steht bei der Premiere zwar auf der Bühne, doch damit endet die Dokumentation. Das ist nicht nur deshalb unbefriedigend, weil der aufklärerische Diskurs hier beispielhaft in die fundamentalistische Reaktion zu münden scheint, sondern mehr noch wegen der großen Farbigkeit und Plastizität, mit der zuvor ein nuanciertes Fresko deutsch-türkischen (Frauen-)Lebens ausgebreitet wurde. Die Teilhabe an den Gesprächen und Erfahrungen der Protagonisten gerät dadurch in beträchtliche Schieflage, weil sie den Eindruck einer gewissen Konzeptionslosigkeit nährt, die vom Gang der Ereignisse überrollt wurde. Doch selbst als filmischer Torso berührt der Blick hinter den Vorhang, weil er plastische Einblicke in die eigenwillige Genese einer Inszenierung gewährt und dabei eine Handvoll türkischer Immigrantinnen ablichtet, deren Verwurzelung in der neuen Heimat am besten an der Perfektion abzulesen ist, mit der sie schwäbisch parlieren.
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