Drama | Israel/Deutschland 2009 | 124 Minuten

Regie: Scandar Copti

In einem gemischtrassigen, multireligiösen Stadtteil von Jaffa kreuzen sich die Lebenswege einiger Menschen, wobei ein junger Mann und sein Freund, die sich als Gelegenheitsdrogendealer betätigen, eine Entwicklung in Gang setzen, die für alle Beteiligten unkontrollierbar wird. Der in fünf Kapitel eingeteilte, multiperspektivisch und auf unterschiedlichen Zeitebenen erzählte Film eines israelischen sowie eines arabischen Regisseurs funktioniert an der Handlungsoberfläche als perfekter Thriller, beschreibt darüber hinaus aber intensiv die politische Situation im Nahen Osten. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
AJAMI
Produktionsland
Israel/Deutschland
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
Twenty Twenty Vision/Inosan Productions/ZDF (Das kleine Fernsehspiel)/ARTE
Regie
Scandar Copti · Yaron Shani
Buch
Scandar Copti · Yaron Shani
Kamera
Boaz Yonathan Yaacov
Musik
Rabiah Buchari
Schnitt
Scandar Copti · Yaron Shani
Darsteller
Shahir Kabaha (Omar) · Ibrahim Frege (Malek) · Fouad Habash (Nasri) · Youssef Sahwani (Abu Elias) · Ranin Karim (Hadir)
Länge
124 Minuten
Kinostart
11.03.2010
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Thriller
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Heimkino

Die ausführlichen Extras der Doppel-DVD umfassen u.a. ein Feature mit 14 im Film nicht verwendeten Szenen sowie ein umfagreiches "Making Of".

Verleih DVD
Neue Visionen (16:9, 1.85:1, DD5.1 hebr./dt.)
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Diskussion
„Ajami“ hat alles, was einen Thriller auszeichnet: Geheimnisse, Intrigen, Verrat, Hass, Schießereien, Mord und Totschlag. Das Besondere an dem Film ist jedoch, dass er noch viel mehr zu bieten hat und die Genre-Folie für eine komplexe, hochpolitische Geschichte nutzt. Ajami ist ein Teil der arabischen Stadt Jaffa, die wiederum von der israelischen Stadt Tel Aviv eingemeindet wurde; mit ihrem gemischten Bevölkerungsanteil ist Ajami ein sozialer Brennpunkt, in dem Religionen und Weltanschauungen, Sprachen und Mentalitäten ebenso wie Selbstbehauptungsansprüche unmittelbar aufeinander prallen. Ein Schmelztiegel, in dem sich Konflikte fokussieren, sich aber auch die Möglichkeit bietet, sich dem scheinbar Fremden anzunähern – nicht unbedingt mit dem Ziel, uneingeschränktes Verständnis für den Anderen aufzubringen, aber mit der Chance, ein mehr oder weniger entspanntes Verhältnis zueinander zu entwickeln. Das funktioniert weitgehend, doch unter der Oberfläche schlummern viele Konflikte, und es braucht nur den gefürchteten Funken, um das Pulverfass zur Explosion zu bringen. Davon handelt der in Kooperation eines arabischen Christen, Scandar Copti, und eines israelischen Juden, Yaron Shani, inszenierte Film, der sich mit den latenten Problemen der israelischen Heimat beider Regisseure auseinander setzt. Der junge Araber Omar, der nach einer unverschuldeten Schießerei in der (finanziellen) Blutschuld eines Beduinenstamms steht und Protektion durch den arabischen Restaurantbesitzer Abu Elias erfährt, trifft in Ajami auf seinen weit jüngeren palästinensischen Freund Malek. Dieser will ebenfalls für den einflussreichen Geschäftsmann, der Verbindungen sowohl zur israelischen als auch zur arabischen Seite der Stadt hat, arbeiten, um die Krankenhauskosten seiner sterbenskranken Mutter aufzubringen. Die beiden Verzweifelten finden in Binj einen Freund, der die Seiten zu wechseln und nach Tel Aviv zu ziehen versucht, um mit seiner jüdischen Geliebten zusammen zu sein. Als Binj, der durch Zufall an ein Paket mit Drogen gerät, ermordet wird, wird Malek (Ohren-)Zeuge der Tat und glaubt, Omar und sich selbst mit einem Drogendeal aus ihrer Notlage helfen zu können. Doch machen die Rechnung ohne die vielen Wirte: den jüdischen Polizisten Dando, der nach dem spurlosen Verschwinden seines jüngeren Bruders, eines Soldaten, traumatisiert ist und seine Familie vernachlässigt, und Abu Elias, der die Verbindung seiner Tochter zu Omar mit allen Mitteln unterbinden will. Letztlich befinden sich alle auf einer abschüssigen Bahn, die ihre Opfer fordert. Die beiden Regisseure unterlaufen in diesem atemberaubenden Stadtteil-Porträt, das gleichzeitig eine ganze Region spiegelt, alle Genre-Erwartungen. Die Protagonisten sind allenfalls durch ihre Verzweiflung und das gegenseitige Misstrauen geeint, auch wenn der Wunsch nach einem friedlichen Zusammenleben allgegenwärtig scheint. In fünf Kapiteln wird aus einem jeweils anderen Blickpunkt erzählt, doch diese Perspektivwechsel erfordern ebenso einen hellwachen Zuschauer wie die verschlungene Erzählstruktur, die Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges zu einer komplexen Einheit verwebt und so die Sinne für die Realität schärft. Dazu dienen auch die zahlreichen Abblenden ins Schwarze, die immer wieder den Erzählfluss brechen und jeden selbstvergessenen Genuss eines rein narrativen Kinos im Keim ersticken. Auch der letzte Perspektivwechsel des Films, der einen eigentlich „unmöglichen“ Blick auf die Geschichte eröffnet, aus dessen Warte heraus aber dennoch der einzig mögliche Überblick über die vertrackten Verhältnisse möglich erscheint, führt zu Irritationen. „Ajami“ ist ein Film mit Langzeitwirkung, der zwar keine politische Partei ergreift, sich aber in seiner Haltung klar positioniert: Er schärft den Blick für politische und soziale Verhältnisse, gerade weil er Einzelschicksale in den Mittelpunkt stellt, keine Sympathien verteilt, keine Klischees erfüllt und keine verallgemeinernde Analyse der politischen Situation im Nahen Osten versucht. Stattdessen entwickelt er eine nahezu klassische Tragödie, die von einer übergroßen Schuld erzählt, in deren Sog es keine Zeit für Sühne zu geben scheint.
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