Min Dît - Die Kinder von Diyarbakir

Dokumentarfilm | Türkei/Deutschland 2009 | 102 Minuten

Regie: Miraz Bezar

Nach der Ermordung ihrer Eltern durch Angehörige einer paramilitärischen Spezialeinheit müssen sich eine Zehnjährige und ihr kleiner Bruder allein durch ihre Heimatstadt Diyarbakir schlagen. Eine minimalistisch inszenierte, atmosphärisch dichte Studie, die von überzeugend geführten minderjährigen Laiendarstellern getragen wird und auf die Notwendigkeit der Vergangenheitsbewältigung verweist, wobei der Film geschickt die Schemata eines Kompilationsfilms umgeht. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
MIN DÎT
Produktionsland
Türkei/Deutschland
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
Bezar/corazón International
Regie
Miraz Bezar
Buch
Miraz Bezar
Kamera
Isabelle Casez
Musik
Mustafa Biber
Schnitt
Miraz Bezar
Darsteller
Senay Orak (Gulîstan) · Muhammed Al (Firat) · Hakan Karsak (Nuri Kaya) · Suzan Ilir (Zelal) · Berîvan Ayaz (Dilan/Dilara)
Länge
102 Minuten
Kinostart
22.04.2010
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Ende einer Kindheit: die zehnjährige Gülistan und ihr kleiner Bruder müssen sich, nachdem ihre Eltern auf dem Rückweg von einer Hochzeit von paramilitärischen Spezialeinheiten erschossen wurden, alleine durchs Leben schlagen. Die beiden Kinder leben im osttürkischen Diyarbakir, das seit dem Bürgerkrieg zwischen der türkischen Armee und kurdischen Rebellen in den 1990er-Jahren von 300.000 auf 1,5 Mio. Einwohner angewachsen ist. Eine exemplarische Geschichte über einen Alltag, in dem die Traumata der Vergangenheit ausgeblendet werden. Für seinen ersten Langspielfilm zog der dffb-Absolvent Miraz Bezar 2005 nach Diyarbakir. Der in Ankara und Bremen aufgewachsene Filmemacher, der mit seinen Eltern nach dem Militärputsch 1980 nach Deutschland floh, hat nie in den kurdisch besiedelten Gebieten der Türkei gelebt. Das Schicksal der Kurden erlebte er dennoch nicht nur aus der Distanz, da die Geschichten und Schicksale aus dem Osten bis nach Deutschland drangen. In Diyarbakir stellte er fest, dass „die Opfer und Täter weiterhin miteinander leben“. Eine Aufarbeitung der Vergangenheit fand bis heute nicht statt, für Bezar ein wesentlicher Grund für die fehlende Zukunftsperspektive: „Die Menschen erleben ihre Gegenwart als auswegloses Chaos ohne Chance auf Entwicklung.“ „Min Dît“, zu Deutsch: „vor meinen Augen“, beschreibt die von Misstrauen und Stagnation geprägte Atmosphäre aus der Sicht der beiden Kinder, die nicht nur zu Zeugen des Mordes an ihren Eltern werden, sondern in den Strudel der Armut geraten. Ganz unten angekommen, finden sie sich in der Gemeinschaft anderer Straßenkinder wieder, die wahrscheinlich ähnliches hinter sich haben. Sie verstecken sich in der Ruine einer ehemaligen armenischen Kirche, auch das ein weiterer politischer Fallstrick der türkischen Gegenwart. Gesprochen wird darüber nicht, weder im richtigen Leben, noch im Film. Bezar erzählt den atmosphärischen Schwebezustand des Unguten, des Unausgesprochenen zwischen den Bildern. Die verhaltene Inszenierung, die protokollarische Dramaturgie lassen Platz für Nuancen, kleine Gesten, mit denen die minderjährigen, überzeugend geführten Laiendarsteller auf ihre exemplarischen Lebensgeschichten verweisen. „Min Dît“ spricht viele Themen an, ohne zum Kompilationsfilm zu verkommen. Bezar bringt fast etwas Berliner Schule nach Diyarbakir, allerdings verfeinert mit melodramatischer Essenz, womit der spröde Minimalismus gekonnt um die notwendige Restwärme ergänzt wird. Schematische Interpretationsmuster bleiben außen vor, was den Weg zu den unerforschten Hohlräumen der kollektiven Psyche öffnet, die hinter notdürftig versiegelten Fassaden ruhen. Natürlich gibt es auch einen Schuldigen: Irgendwann trifft Gülistan auf den Mörder ihrer Eltern, den Geheimpolizisten Nuri Kaya, der als liebevoller Familienvater in der unmittelbaren Nachbarschaft lebt. Das Mädchen macht mit Flugblättern auf Kayas Verstrickungen aufmerksam, hängt so „dem Wolf eine Glocke um“, wie es in dem Märchen heißt, das die Mutter ihren Kindern kurz vor ihrer Ermordung auf eine Kassette gesprochen hat. In Yasar Kemals Märchen entschließen sich die Dorfbewohner, den Wolf nicht zu töten, sondern ihn durch das Gebimmel weithin hörbar als gefährliches Raubtier zu markieren. Der auf Kurdisch gedrehte Film lief inzwischen auch in der Türkei, auf dem Filmfestival 2009 in Ankara. Der Film ist nicht nur ein wichtiger Beitrag zum türkisch-kurdischen Dialog, sondern wegen seiner atmosphärischen Dichte auch ein sehenswerter Film.
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