Fliegen und Engel - Ilya & Emilia Kabakov und die Kunst der 'totalen' Installation

Dokumentarfilm | Deutschland 2009 | 99 Minuten

Regie: Kerstin Stutterheim

Dokumentation über den ukrainischen Künstler Ilya Kabakov, der 1987 die Sowjetunion verließ und international zusammen mit seiner Frau Emilia als Installationskünstler Karriere machte. Chronologisch angelegt, verfolgt der Film Lebensstationen und künstlerische Projekte Kabakovs, unterfüttert von Interviews, in denen Kabakov selbst sein Leben und Werk erläutert. Auch wenn dabei relativierende Blicke anderer Zeitzeugen außen vor bleiben, überzeugt das Porträt durch seinen ruhigen Erzählfluss und den respektvollen Blick auf das Künstlerpaar und dessen ebenso politisches wie poetisch-surreales Werk. (O.m.d.U.) - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
filmtank/WDR/3sat
Regie
Kerstin Stutterheim · Niels Bolbrinker
Buch
Kerstin Stutterheim · Niels Bolbrinker
Kamera
Niels Bolbrinker
Schnitt
Niels Bolbrinker
Länge
99 Minuten
Kinostart
13.05.2010
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Angst und Ekel überschatten immer noch sein Gesicht, wenn er von der entbehrungsreichen Existenz als inoffizieller Sowjetkünstler in den 1960er- und 1970er-Jahren spricht, in einem Land, das seine Bürger zu lebenslänglichen Versuchskaninchen einer immer groteskere Kapriolen schlagenden Ideologie degradierte. Der 1933 in der Ukraine geborene Ilya Kabakov verließ 1987 die UdSSR. Er ging auf Dienstreise in die Schweiz, wie er augenzwinkernd sagt, wo ihm die erste Einzelausstellung überhaupt ausgerichtet wurde. Sie erwies sich länger als geplant, was auch Vorteile hatte, denn Trennungsängste konnten sich so erst gar nicht einstellen. Der unverhoffte Emigrant traf Emilia wieder, eine ausgebildete Pianistin und Pädagogin, die bereits in den 1970ern nach Israel ausgewandert war und wenig später in die USA zog. Die beiden heirateten und bereichern seitdem als gern gesehene Biennale- und documenta-Teilnehmer von New York aus die globale Kunstwelt mit ihren theatralischen und subtil humorvollen „Totalinstallationen“. Er nimmt dabei die Rolle des endlos sprudelnden Ideengebers ein, sie die der geduldigen und theoriefesten Beraterin. Schwer fällt ihm die Arbeitsteilung nicht, denn sein früheres Leben erforderte gleich eine Vielzahl von Rollen, wie Kabakov selbstironisch erzählt: die des am sozialistischen Realismus geschulten Kunststudenten, eines propagandistisch gefestigten Kinderbuchillustrators und des im Verborgenen agierenden Moskauer Dissidenten, der als verspielter Installationskünstler die Sowjetepoche begrub. Im Mittelpunkt des Doppelporträts von Kerstin Stutterheim und Niels Bolbrinker stehen die von Fliegen und Engeln bevölkerten Gegenwelten des desillusionierten und zugleich trotzig der Utopie zugewandten Optimisten. Die vom Müll aller Art angezogenen Insekten repräsentieren metaphorisch seine traumatischen Erlebnisse in einem Zwangssystem und die harte sozialistische Alltagsrealität. Die Himmelsboten beziehen sich im Kontrapunkt auf den Entwurf eines humanen Lebens in der Zukunft. Ein prägnantes Beispiel für die erste Sphäre der Dichotomie liefert das Motiv der Kommunalka, eine in der Sowjetunion weit verbreitete Form der Kollektivwohnung, in der Kabakov einige Jahre seiner Kindheit verbracht hatte. Der Film gibt bedrückende Einblicke in eine heute noch real existierende Variante, in der mehrere Familien stoisch die klaustrophobische Enge ertragen. Kontrastiert werden diese Momentaufnahmen mit den Aufbauarbeiten einer begehbaren Installation, die das Kraftzentrum dieser Lebensweise, die gemeinsame Küche, zu einer „Kathedrale des Alltags“ erhebt, in deren Gewölbe Töpfe und Kochutensilien wie Schmeißfliegen an den Wänden kleben. Es ist nur eine von vielen bitter-süßen Rätselbühnen, die der Betrachter mit den Augen der Kamera betritt. Mal findet man sich inmitten der legendären Installation „Der Mann, der in den Kosmos flog“, einem satirischen Abgesang auf den Weltraumfetischismus der Sowjets, mal im Angesicht literarisch anmutender Text-Gemälde oder eines großformatigen Architekturmodells, das als „Dante-Theater“ zwischen Keller und Himmel in das genreübergreifende Kabakov-Universum einführt, veranschaulicht anhand eines spiralförmigen Holzungetüms, das sich von den Untiefen des irdischen Daseins mit fantastischen Höhenflügen befreien möchte. Der chronologisch angelegte und mit Originalfotografien unterfütterte Wechsel zwischen Lebensstationen und einzelnen Projekten bestimmt den angenehm entschleunigten Erzählfluss. Ausführliche Interviews werden atmosphärisch vertieft mit Szenen aus der russischen Gegenwart, mit Vorliebe von der Moskauer Metro, was zwar nicht immer zur Textebene passt, aber auch nicht weiter stört. Schmerzlich fehlen jedoch Aussagen von Zeitzeugen und Weggefährten wie etwa Boris Groys, die der – wenn auch uneitlen – Selbstbespiegelung den Blick des anderen hinzufügen würden. Das Ergebnis ist dennoch ein Stück aus einem Guss, fast beiläufig eingefangen und mit einem respektvollen Blick für das vom jüdischen Witz geprägte Wesen eines unzertrennlichen Künstlerpaars, dem das Private nie politisch und poetisch genug sein kann.
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