Drama | Frankreich 2008 | 102 Minuten

Regie: Pierre Schoeller

In einem Wald nahe beim Schloss Versailles leben Obdachlose und soziale Außenseiter. Einer von ihnen, der sich in seinem autonomen Dasein fest eingerichtet hat, wird zum Ersatzvater für einen allein gelassenen Jungen. In einfachen, klaren Bildern zeichnet der Film den Alltag abseits der bürgerlichen Gesellschaft nach, ohne dessen Härten auszusparen, gewinnt dem Leben seiner Protagonisten aber auch immer wieder Momente der Schönheit ab. So wird der Film zur vielschichtigen, durchaus ambivalenten Reflexion über Lebensstile, bürgerliche Normen, Freiheitsvorstellung und falsche Sicherheiten. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
VERSAILLES
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Les Films Pelléas
Regie
Pierre Schoeller
Buch
Pierre Schoeller
Kamera
Julien Hirsch
Musik
Pierre Schoeller
Schnitt
Mathilde Muyard
Darsteller
Guillaume Depardieu (Damien) · Max Baissette de Malglaive (Enzo) · Judith Chemla (Nina) · Patrick Descamps (Jean-Jacques) · Aure Atika (Nadine)
Länge
102 Minuten
Kinostart
27.05.2010
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama
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Diskussion
Das barocke Schloss Versailles ist der Inbegriff von Luxus und Verschwendung. Bis zum Ausbruch der Französischen Revolution war der majestätische Palast mit seinen weitläufigen Gartenanlagen der Mittelpunkt Frankreichs, heute ist er eine Touristenattraktion, ein Denkmal für eine vergangene Ära. Im gleichnamigen Kinodebüt von Pierre Schoeller ist Versailles jedoch nichts von alledem; es ist vielmehr ein Ort, der abwesend ist und sich nur wenige Male überhaupt zeigt. Seine Präsenz ist dennoch spürbar, denn er fungiert als Kontrastfolie für die Outsider-Existenzen „jenseits von Versailles“, für das Leben in den angrenzenden Wäldern. Hier treffen die obdachlose Nina und ihr fünfjähriger Sohn Enzo auf Damien (Guillaume Depardieu in einer seiner letzten Rollen), einen Einsiedler, der sich aus Plastikfolien und Brettern eine gut funktionierende Hütte zusammengebaut hat. Beide stehen außerhalb der Gesellschaft, sind aber an verschiedenen Punkten ihres Lebens angelangt, haben offensichtlich andere Motive für ihre Entscheidungen. Während Nina ausgestoßen wirkt, überfordert von der Verantwortung ihrem Kind gegenüber sowie dem täglichen Kampf ums Überleben, wirkt Damien selbstbestimmt in seinem Bruch mit dem bürgerlichen Leben. Er hat den zähen Körper eines Guerilla-Kämpfers, hat sich der Natur vollständig angepasst. Noch in der Nacht bricht Nina heimlich auf, Enzo lässt sie zurück. Für Damien ist der Junge zunächst eine Störung seiner autonomen Existenz, er versucht ihn loszuwerden, doch allmählich nähern sich beide an. Bald schon sind sie eng miteinander verbunden und werden unzertrennlich. Pierre Schoeller erzählt zurückhaltend und in einfachen, klaren Bildern von ihrem gemeinsamen Leben in den dicht bewachsenen Wäldern, doch er trotzt der Härte ihres Alltags, dem Hunger, der Kälte, der Einsamkeit, dennoch eine gewisse Zärtlichkeit und Schönheit ab, die in manchen Momenten sogar an die Stimmung in Terrence Malicks „Badlands“ (fd 20728) erinnert. Eine ganz banale Situation – Damien wäscht Enzo die Haare – wird zu einem berührenden Moment; die Kargheit der improvisierten Behausung gewinnt einen seltsamen Zauber. Nur gelegentlich kippt der Film in einen etwas artifiziell-poetischen Ton, etwa wenn die Gemeinschaft der Aussteiger (es gibt eine ganze Anzahl anderer Waldbewohner) einen verstorbenen Freund betrauert oder am Lagerfeuer über Moral und Ethik herumphilosophiert wird. Als Damien schwer krank wird und an einem Fieber zu sterben droht, holt Enzo Hilfe. In einer grandiosen Szene werden nun erstmals beide Welten von Versailles – die offizielle wie die „verborgene“ – in einer Sequenz zusammengefasst. Enzo stürmt aus dem Wald hinaus, durch die barocken Parkanlagen hindurch, an Touristen vorbei und in das Schloss hinein, wo er einen livrierten Angestellten in Rokoko-Kostüm und weißer Perücke um Rettung bittet. Es ist ein surrealer Moment, dabei ist er auf erschreckende Weise ganz in der Realität verankert. Die Erzählung von „Versailles“ ist brüchig – eher unvermutet und kurz verfolgt der Film plötzlich wieder Nina, die mit Hilfe einer etwas ominösen Frau (dieser Einschub bleibt merkwürdig, nebulös) inzwischen ein bürgerliches Leben aufgenommen hat. Auch Damien entschließt sich zu diesem Schritt – die Wohnstätten der Aussteiger sind bedroht, und der Winter kündigt sich an. Bei der Familie seines Bruders versucht er, mit Enzo so etwas wie ein normales Leben zu führen. Arbeit, Schule, Freunde, Familienleben – wie schwer es ist, an diese Normalität anzuknüpfen, welche Einschränkungen nicht zuletzt damit verbunden sind, auch das zeigt der Film. „Wann gehen wir zurück in den Wald?“, fragt das Kind eines Tages. „Versailles“ ist alles andere als eine sozialrealistisch gestrickte Elendsgeschichte. Und dennoch erzählt Pierre Schoeller von gesellschaftlich relevanten Themen – von sozialen Normen, von Ausschluss, Zwängen und Freiheit, von der Illusion der Freiheit, vielleicht aber auch von der Illusion eines behüteten Lebens.
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