Drama | Philippinen/Frankreich 2009 | 115 Minuten

Regie: Brillante Mendoza

Bei einem Raubüberfall wird ein Mann erstochen. Die Großmutter des Opfers, eine Frau aus einem Slum in Manila, versucht, das Geld für eine würdige Beerdigung aufzutreiben, während die Großmutter des Täters, die in ähnlich desolaten Verhältnissen lebt, alles daran setzt, Geld für eine außergerichtliche Einigung mit der Familie des Opfers zu organisieren. Die Kamera heftet sich an die Fersen der beiden alten Frauen und lässt nahezu körperlich an ihrer Mühsal teilhaben. Ein erschütternder Einblick in eine Welt, in der Kategorien wie Recht und Gerechtigkeit, Schuld und Sühne angesichts existenzieller Not ihren Sinn zu verlieren drohen. (O.m.d.U.; Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LOLA
Produktionsland
Philippinen/Frankreich
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
Swift Prod./Centerstage Prod.
Regie
Brillante Mendoza
Buch
Linda Casimiro
Kamera
Odyssey Flores
Musik
Teresa Barrozo
Schnitt
Kats Serraon
Darsteller
Anita Linda (Lola Sepa) · Rustica Carpio (Lola Puring (Mateos Großmutter)) · Tanya Gomez (Ditas) · Jhong Hilario (Bebong (Mateos Bruder)) · Ketchup Eusebio (Mateo)
Länge
115 Minuten
Kinostart
15.07.2010
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
Eine alte Frau und ein kleiner Junge, zu Fuß unterwegs in Manila. Ihr Ziel – das erfährt man erst am Ende der langen Sequenz – ist es, eine Kerze anzuzünden: Ein Enkel der Frau wurde kürzlich bei einem Raubüberfall erstochen, nun will sie an der Stelle, an der das Verbrechen geschah, ein Licht aufstellen. Die mobile Kamera heftet sich an die Fersen der beiden und begleitet sie nahezu in Echtzeit; sie enthüllt, was das Unternehmen für die alte, zerbrechlich wirkende Frau bedeutet: die ganze Mühsal des Sich-Bewegens durch den einsetzenden Regen, die Länge der Wege und die Beschwernis der Treppenstufen. Das Anstecken der Kerze wird zur quälend zähen Prozedur, da Windstöße die kleine Flamme der Streichhölzer immer wieder ausblasen. Doch die Frau probiert es, unterstützt vom kleinen Jungen, so lange, bis das Licht brennt. Mit „Kinatay“ (Kritik in dieser Ausgabe, fd 39 952) sorgte der philippinische Regisseur Brillante Mendoza 2009 in Cannes für extreme Schockwellen. „Lola“ zieht den Zuschauer, wenngleich ohne die Exzesse direkter körperlicher Gewalt, ebenfalls in eine bedrängende Welt, deren Strukturen kaum die Chance auf ein menschenwürdiges Leben zulassen. Dabei mutet der Film „nur“ die alltäglichen Strapazen und Nöte des Lebens in den Slums von Manila zu. Auch in „Lola“ (was in Tagalog, der auf den Philippinen verbreitetsten Sprache, „Großmutter“ bedeutet) spielt ein Gewaltverbrechen eine zentrale Rolle (der Mord am Enkel der alten Frau), doch liegt das Verbrechen vor der Filmhandlung und wird nicht visualisiert. Der Film macht wenig mehr, als mit unerschütterlicher Geduld der Großmutter des Opfers zu folgen und ihr Leben bald dem der Großmutter des Täters gegenüber zu stellen, die in ähnlich desolaten Slum-Verhältnissen lebt und alles daran setzt, ihren Enkel vor einer Verurteilung zu bewahren. Bis die beiden Handlungsstränge schließlich in einem Treffen der beiden Matriarchinnen zusammenlaufen. Im Folgenden geht es auch um den anstehenden Gerichtsprozess, bei dem die eine Partei Strafe für den Mord verlangt, während die Täterfamilie eine außergerichtliche Einigung erzielen, was heißt, die Familie des Opfers durch Geld dazu bringen will, die Anklage fallen zu lassen; dies reicht offenbar aus, um einen Prozess zu vermeiden. Vor allem aber geht es um das, was in diesem Geschehen mit den beiden alten Frauen passiert: um die Anstrengungen der einen, eine würdige Beerdigung zu finanzieren, obwohl die kleine Familie ohnehin kaum genug zum Überleben hat; um die Plackereien der anderen, Geld fürs „Freikaufen“ des angeklagten Enkels aufzutreiben, ihm Essen ins Gefängnis zu bringen, aber auch einen kranken Sohn zu ernähren und mit Medikamenten zu versorgen. Mendoza gelingt mit dieser Sezierung zweier tragisch miteinander verbundener Slum-Alltage Körperkino von höchster Sinnlichkeit und Direktheit, wobei die Kamera den Zuschauer den Protagonisten und ihren Bewegungen durch die desolate Stadtlandschaft förmlich aussetzt. Eigentlich nebensächliche Erlebnisse verdichten sich so zu peinigenden Dramen, wenn etwa eine der alten Frauen im Gerichtsgebäude vor einer Anhörung dringend auf die Toilette muss, im ganzen Gebäude aber kein intaktes Klo findet. Eröffnet wird der Film paradigmatisch mit einer Nahaufnahme von Geldscheinen: Wie das Ringen um Geld die ausgemergelten alten Frauen förmlich umtreibt, wie es die Handlungen bestimmt – vom initiierenden Raubmord bis zur Begegnung der beiden Hauptfiguren, bei der die Summe für die außergerichtliche Einigung die Besitzerin wechselt –, erschreckt weniger als der ebenfalls für Geld verübte Mord in „Kinatay“. Die Systemkritik, die Mendoza mit seiner minutiösen Studie übt, ist indes nicht weniger scharf. In der ermüdenden Tretmühle, die die materiellen Zwänge für die Figuren bedeuten und an der der Film unmittelbar teilhaben lässt, werden schließlich Kategorien von Recht oder Gerechtigkeit, Schuld und Sühne Makulatur – in der Welt, in der „Lola“ spielt, erscheinen solche Vorstellungen angesichts der schieren materiellen Notwendigkeiten nahezu absurd. Zugleich kann man kaum umhin, die beiden Hauptfiguren zunehmend zu bewundern: Es liegt eine große Würde in der Unermüdlichkeit und Hartnäckigkeit, mit der sie sich für ihre Angehörigen einsetzen und mit stiller Konsequenz tun, was getan werden muss, um ein Überleben zu sichern und die Formen eines menschenwürdigen Daseins zu wahren – etwa durch die Einhaltung der traditionellen Beerdigungszeremonien. Beide Frauen haben das Format camusscher Heldinnen: zwei philippinische Schwestern des Sisyphos.
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