Deutsche Seelen - Leben nach der Colonia Dignidad

Dokumentarfilm | Deutschland 2008/09 | 96 Minuten

Regie: Matthias Zuber

Dokumentarfilm über das Innenleben der berüchtigten "Colonia Dignidad", einer sektenartigen Gemeinschaft deutscher Siedler in Chile, die 1961 gegründet wurde und in der heute noch rund 150 Mitglieder zu Hause sind. In Interviews offenbart sich ein System des Schreckens, das mit der Theorie einer vermeintlich übermenschlichen Liebe verschleiert wurde. Die Erfahrungen der Sekte verdichten sich im Film zur Parabel über geschlossene Gesellschaften, die damit verbundene Schuld und Sühne sowie die Beschädigung des Individuums durch Freiheitsentzug, Ideologie und Gewalt. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2008/09
Produktionsfirma
Polyeides Medienkontor/ZDF (Das kleine Fernsehspiel)
Regie
Matthias Zuber · Martin Farkas
Buch
Britta Buchholz
Kamera
Martin Farkas
Schnitt
Nina Ergang
Länge
96 Minuten
Kinostart
01.07.2010
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Heimkino

Verleih DVD
Zorro (16:9, 1.85:1, DD2.0 span., DD5.0 dt.)
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Diskussion
Im Jahr 1961 gründete der Deutsche Paul Schäfer auf einem 40000 Hektar großen Landstrich in den Bergen Chiles seine „Colonia Dignidad“. Er holte rund 300 Landsleute hierher, versprach ihnen Arbeit und Brot, eine kameradschaftliche Großfamilie, deren Alltag durch ein „absolutes Vertrauen zu einander, zu Gott und zur Bibel“ geprägt sein würde. Bald begann er, Männer und Frauen zu trennen; die Kinder wurden von den Eltern gelöst und in einem gesonderten Haus untergebracht. Schäfer predigte ihnen, dass Arbeit eine Art Gottesdienst sei; er trieb Siebenjährige, sofern er sie nicht zu seinen Gespielen erkor, aufs Feld und hielt sie durch Peitschen schwingende Aufseher in Schach. Um die „Colonia“ wurde ein von scharfen Hunden bewachter Zaun errichtet; Kameras registrierten alle Bewegungen. Fernsehen, Radio und Bücher waren verboten; selbst von der Bibel kursierte nur eine „gereinigte“ Fassung, aus der zum Beispiel alles, was mit Sexualität zu tun hatte, entfernt worden war. Ein Spitzelsystem trieb bizarre Blüten; wer floh und aufgegriffen wurde, dem drohten harte Strafen. Während der Zeit der Pinochet-Diktatur brachte der chilenische Geheimdienst Hunderte Gefangene in die Colonia Dignidad. Morde standen auf der Tagesordnung, die Leichen wurden verbrannt, die Asche in den Fluss gekippt. 1997 verkroch sich Schäfer nach Argentinien; neun Jahre später, nach seiner Verhaftung, wurde er wegen Folter, illegalem Waffenbesitz und vielfachem Kindesmissbrauch zu 27 Jahren Gefängnis verurteilt; Ende April 2010 ist er gestorben. Was aus den etwa 150 Menschen wurde, die bis heute in der „Colonia Dignidad“ zurück blieben, wie sie ihre Vergangenheit sehen, ihre Verstrickungen und ihre Schuld, psychische Verwerfungen und Verletzungen reflektieren, untersucht der Film „Deutsche Seelen“, ein bemerkenswert unaufgeregter und gerade deshalb eindringlicher Bericht aus dem Innenleben der Sekte. Martin Farkas und Matthias Zuber haben sich Zeit genommen, mit Vertretern der Gründergeneration, aber auch deren Kindern zu reden. Es gibt keinen Kommentar, nur ein paar Inserts, die auf die Chronologie der „Colonia“ verweisen, und ein paar Zwischenfragen, die den behutsam insistierenden Interviewstil der Filmemacher belegen. Von heute aus gesehen ist es kaum begreifbar, warum sich die Familien der rigiden Herrschaft Schäfers beugten, wieso dessen jahrzehntelang praktizierte Verbrechen hingenommen wurden. Wenn Betroffene, zum Teil im schützenden Off, erzählen, dass sie den sexuellen Missbrauch des Sektenführers als Liebesbekundung erlebten, noch dazu religiös verbrämt, werden die Funktionsmechanismen der „Colonia Dignidad“ deutlicher: ein System des Schreckens, verschleiert durch die Theorie einer vermeintlich übermenschlichen Liebe. Die Verwundungen sind den Jüngeren bis heute auf die Stirn geschrieben. Ihr Lächeln scheint verloren, die Unsicherheit drückt sich in scheuen Blicken, im Sprachduktus und auch in dem aus, was nicht über die Lippen kommt. Erfahrungen mit sensationslüsternen Medien mögen da eine Rolle gespielt haben, aber eben auch die jahrzehntelange Erziehung, sich zu unterwerfen, zu dulden und zu schweigen. Graue Gesichter im Gegensatz zu der blühenden Landschaft, die der Film immer wieder kontrastierend ins Bild rückt. „Ich glaubte, dass man als Verräter in die Hölle kommt“, sagt einer der jüngeren Interviewpartner. Einer der älteren, etwa der Stellvertreter Schäfers, Kurt Schellenkamp, scheint diese Haltung bis heute verinnerlicht zu haben. Dramaturgisch geschickt wird er als gütiger, weißhaariger und Gott suchender Familienvater in den Film eingeführt; dass er Mitglied der Waffen-SS war, erzählt er nur beiläufig, und erst nach seinem Satz, dass er versagt habe, weil ihm die Liebe fehlte und er alles zu materiell sah, wird seine führende Funktion innerhalb der „Colonia“ durch ein Insert offenbart. Das ist für den Zuschauer fast wie ein Schock; von diesem Moment an blickt man mit anderen Augen auf den stattlichen Greis und die Menschen um ihn herum, die mit ihm gemeinsam Weihnachten feiern. Die Kamera bleibt lange auf dem „lieben Onkel Kurt“, wie er bis heute genannt wird. Die Schlusssequenz zeigt den hell erleuchteten Gemeindesaal dann von außen, umgeben von stockfinsterer Nacht: ein metaphorisches Bild für eine noch immer relativ abgeschottete Gemeinschaft. Einmal heißt es: „Es waren doch auch schöne Zeiten, mit Sport, Musik und einem Chor.“ Eine Sentenz, wie sie nach dem Ende von Diktaturen regelmäßig zu hören ist. Insofern lassen sich die Erfahrungen, die Martin Farkas und Matthias Zuber vermitteln, über die „Colonia Dignidad“ hinaus auf das ganze deutsche 20. Jahrhundert hochrechnen: „Deutsche Seelen“ kann durchaus auch als Parabel auf geschlossene Gesellschaften, den damit verbundenen Freiheitsentzug und die Beschädigung des Individuums durch Ideologie und Gewalt gesehen werden.
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