Dokumentarfilm | Dänemark/USA/Israel/Österreich 2009 | 95 Minuten

Regie: Yoav Shamir

Der israelische Dokumentarist Yoav Shamir reist auf der Suche nach antisemitischen Tendenzen durch die Welt und fördert kontroverse Ansichten zu Tage, in denen die Grenze zwischen Antisemitismus als genereller Ablehnung von Juden und Antizionismus als der des Staates Israel nicht immer eindeutig gezogen werden kann. Ein mutiger essayistischer Film, der als ironisch angehauchte Reportage am Selbstverständnis der jüdischen Community kratzt und mehr an beunruhigenden Fragen als an simplen Antworten interessiert ist. (Engl.m.d.U.) - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
DEFAMATION | HASHMATSA
Produktionsland
Dänemark/USA/Israel/Österreich
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
SF-Film Prod./Reveal Prod./Cinephil/Knut.Ogris.Films
Regie
Yoav Shamir
Buch
Yoav Shamir
Kamera
Yoav Shamir
Musik
Mischa Krausz
Schnitt
Morten Højbjerg
Länge
95 Minuten
Kinostart
26.08.2010
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
„Antisemitismus“ klingt in deutschen Ohren eigentümlich neutral, ein historisch-wissenschaftlicher Terminus wie „Völkerwanderung“ oder „Gulag“, auch wenn sich keiner als „Antisemit“ beschimpfen lassen wollte, weil dann doch das Gift der Jahrtausende alten „Judenverfolgung“ und die Schlote der Verbrennungsöfen zu spüren sind. In Israel hingegen ist ständig von Antisemitismus die Rede, in den Medien, der Schule, im öffentlichen Raum. Die Vokabel besitzt eine solche Omnipräsenz, dass sie der israelische Dokumentarist Yoav Shamir zum Ausgangspunkt einer brisanten Recherche macht, die im Kern um Fragen der jüdischen Identität kreist. Mit scheinbar naiver Unbedarftheit wundert sich Shamir eingangs auf den Spuren von Michael Moore, dass er persönlich noch nie mit dem irrationalen Hass auf Juden konfrontiert wurde, obwohl die ganze Welt, zumindest aus jüdischer Sicht, angeblich doch zutiefst „antisemitisch“ sei. Schlimmer noch: Er selbst wurde wegen seines Films „Checkpoint“ (2007), in dem er die bittere Realität an den israelisch-palästinensischen Grenzübergängen dokumentiert, antisemitischer Tendenzen bezichtigt. Verkehrte Welt? Was genau meint eigentlich das Schlagwort vom „Antisemitismus“? Shamirs eigene Großmutter, eine waschechte Kibbuznik, käut mit undurchsichtigem Gesicht schlimmste Klischee wieder („Den Juden in der Diaspora geht’s nur ums Geld, sie sind allesamt Gauner“), Abe Foxmann von der mächtigen amerikanischen „Anti-Defamation-League“ (ADL) schmiedet unter dem Signum „Kampf dem Antisemitismus“ weltweit dubiose Allianzen, „Nestbeschmutzer“ wie Norman Finkelstein („Die Holocaust-Industrie“) attackieren die Instrumentalisierung der Shoah oder die Kolonisierung der amerikanischen Außenpolitik durch eine „Israel-Lobby“ (John Mearsheimer und Stephen Walt), während afroamerikanische Passanten in New York unverblümt darüber schimpfen, dass Juden bei den Behörden und ganz allgemein im Leben bevorzugt würden. Am abgeklärtesten erscheinen zwei amerikanische Rabbis, denen antijüdische Parolen anscheinend noch nicht untergekommen sind. Ihre Nüchternheit wirkt umso wohltuender, als das Bild zunehmend komplexer wird, je mehr sich der Film den politischen Unterströmungen des Themas öffnet. Der Streit, ob der Staat Israel den Antisemitismus als politisches Instrument im Kampf um seine Existenz missbrauche oder der Antizionismus in Wahrheit vielmehr purer Antisemitismus sei, klingt zwar akademisch, zielt aber auf den Kern des Problems: die Vermischung leidvoller historischer Erfahrung mit den strategischen Interessen Israels. Im dichtesten Teil der essayistischen Reportage begleitet Shamir eine israelische Schulklasse bei der Fahrt nach Auschwitz und registriert die Veränderungen der Teenager, die am Ende der Reise ihre jugendliche Unschuld komplett verloren haben und aufgelöst von der Rache an den Nachkommen der „Nazis“ fantasieren. Der Satz einer ADL-Funktionärin, dass die Juden die Schuldgefühle der Welt „ausnützen“ müssten, enthüllt hier seine dunkle Kehrseite: eine fatale „self fulfilling prophecy“, die mit der jüdischen „Opfer“-Identität (ganz im Sinne der umstrittenen Finkelstein-Thesen) gleichzeitig die paranoide Basis einer antisemtischen Weltverschwörung legt. Auch wenn der Ton von Shamirs Spurensuche bisweilen ins Ironische spielt, liegt ihre Ernsthaftigkeit auf der Hand: Hier kratzt ein Filmemacher am Selbstverständnis der israelischen Gesellschaft und der weltweiten jüdischen Community. „Defamation“ (dt: Verleumdung, Diffamierung) heißt der mutige Film deshalb nicht ohne Hintersinn, weil er lieber unangenehme Fragen stellt als Antworten sucht, die niemanden interessieren. Das Risiko, missverstanden oder von der falschen Seite sogar missbraucht zu werden, nimmt Yoav Shamir dafür billigend in Kauf.
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