Komödie | Frankreich 2010 | 92 Minuten

Regie: Benoît Delépine

Ein wuchtiger Mann, der die letzten Jahre vor seiner Pensionierung im Schlachthof Schweine zerlegte, kreuzt auf einem alten Motorrad durch Frankreich, um Arbeitsnachweise für seine Rente aufzutreiben. Die Reise in die Vergangenheit droht in Bitterkeit zu enden, bis der Mann auf seine junge Nichte trifft, die ihm die Schönheit des Lebens erschließt und ihn ermuntert, seiner Existenz eine andere Richtung zu geben. Poetisch angehauchte Sozialgroteske, in der ruppige Töne mit flirrenden Impressionen oszillieren, was die Beschädigungen und Hässlichkeiten des Daseins transformiert und die Würde des Protagonisten verteidigt. - Ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
MAMMUTH
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
GMT Prod./No Money Prod./arte France Cinéma/DD Prod./Monkey Pack Films
Regie
Benoît Delépine · Gustave de Kervern
Buch
Gustave de Kervern · Benoît Delépine
Kamera
Hugues Poulain
Musik
Gaëtan Roussel
Schnitt
Stéphane Elmadjian
Darsteller
Gérard Depardieu (Serge "Mammuth" Pilardosse) · Yolande Moreau (Catherine Pilardosse) · Isabelle Adjani (Yasmine) · Benoît Poelvoorde (Konkurrent) · Miss Ming (Miss Ming, Mammuths Nichte)
Länge
92 Minuten
Kinostart
16.09.2010
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Komödie | Road Movie
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Als Serge Pilardosse im Supermarkt vom Verkäufer Informationen über den angebotenen Schinken haben will, kommt es fast zu Handgreiflichkeiten; nur die Fleischtheke steht den beiden Streithähnen im Weg. Der Verkäufer hat offensichtlich keine Ahnung von dem Produkt und schämt sich nicht einmal dafür, sondern wird frech – so viel Respektlosigkeit gegenüber dem Kunden, vor allem aber gegenüber der eigenen Arbeit bringt den frischgebackenen Rentner Serge auf die Palme, war er doch selbst bis vor kurzem vorbildlich-verlässlicher Mitarbeiter in einem Schlachthof und weiß bestens Bescheid über den richtigen Rosaton und die Marmorierung, die einen guten Schinken auszeichnen. In dieser Szene blitzt eine überraschende Seite der Hauptfigur auf: Hat man ihn zuvor als passiven, schweigsamen Mann kennen gelernt, der mit seinem massigen Körper und seiner langen Rocker-Mähne so stoisch-unbeholfen wie ein urzeitliches Mammut einherstampft (als „sozial behinderten Mann“ charakterisieren ihn die Filmemacher), schimmern in seiner hitzigen Verteidigung des Metzgerhandwerks Züge auf, die er selbst erst neu an sich entdecken muss: Leidenschaft und Stolz. Von dieser Entdeckung erzählt „Mammuth“ in Form eines Road Movies: Der gealterte Protagonist macht sich zu einer großen Reise auf, bei der Vergangenes verarbeitet und Neues entdeckt wird. Die Pensionierung lässt Serge nach Jahren eines harten Arbeiterlebens in ein dumpfes Loch aus Langeweile und Sinnlosigkeit stürzen, bis aus dem Leerlauf ein Neuaufbruch wird. Auslöser ist die schiere finanzielle Notwendigkeit: Um eine halbwegs anständige Rente zu erhalten, muss Serge Beschäftigungsnachweise von jenen Arbeitgebern beibringen, bei denen er vor seinem Job im Schlachthof angestellt war – und das sind viele: Offensichtlich führte Serge einst ein unstetes Wanderleben und übte vom Totengräber bis zum Rausschmeißer so ziemlich jeden Job aus, den ein unausgebildeter Hilfsarbeiter übernehmen kann. Auf Drängen seiner resoluten Frau holt er widerwillig sein altes Motorrad, eine Münch-Mammut aus den 1970er-Jahren, aus der Garage, erhält zum Abschied von ihr etwas Geld und ein Handy und fährt los, gemächlich, aber unermüdlich. Manchmal findet er seine früheren Chefs, manchmal nur Fremde und Orte, die er kaum wiedererkennt; häufig sind die Begegnungen demütigend und öfters nicht mit den gesuchten Belegen gekrönt. Die klägliche Bilanz eines Lebens – oder vielleicht doch nicht? Neben diversen kuriosen Zeitgenossen trifft Serge immer wieder auf einen schönen, wenngleich etwas gruseligen Geist: das Traum- bzw. Erinnerungsbild einer toten Frau, die er einst liebte. Mit ihr ist ein großer Schmerz verbunden – aber auch Erinnerungen an Glück und Freiheit. Als Serge seinen Bruder besucht, mit dem er seit Jahren zerstritten ist, trifft er auf dessem verwucherten Grundstück seine somnambule Nichte, eine „Asoziale“ und Künstlerin, die ihm hilft, seinem Leben eine neue, kreative Richtung zu geben. Gustave de Kervern und Benoît Delépine („Aaltra“, fd 37 591; „Louise Hires a Contract Killer“, fd 39 506) bemühen erneut den Tonfall der schwarzhumorig-makabren Sozialkomödie, die vom Überlebenskampf am unteren Rand der Gesellschaft erzählt. Ganz so politisch unkorrekt wie in ihren Vorgängerfilmen geht es in „Mammuth“ nicht zu. Einmal mehr steht ein Vertreter der Unterschicht im Mittelpunkt, der immer wieder einstecken muss, ohne davon zu Boden zu gehen. Doch die anarchische Skrupellosigkeit, mit der die Helden von de Kerverns und Delépines ersten Filmen zurückschlugen, blitzt bei Serge nur selten auf; er scheint vielmehr ein sanfter Riese zu sein, dessen Selbstbehauptungsinstinkt keine destruktiven, sondern schöpferische Blüten treibt. Damit kommt ein poetisches Element ins Spiel, das sich flüssig und leichtherzig mit der ruppigen Sozialgroteske verbindet. Das schlägt sich auch in der visuellen Gestaltung nieder, wenn die grobkörnig-verwackelten Bilder, die seit „Dogma“-Tagen ungeschönte Authentizität signalisieren, ins Flirrend-Impressionistische oszillieren, während Serge auf seiner Mammut durch die Landschaft braust, wobei er allmählich die dumpfe Zweckgebundenheit seiner Reise hinter sich lässt und sich eine neue Gestaltungsfreiheit erobert, die die Beschädigungen und Hässlichkeiten seines Daseins gleichsam transformiert. Man mag dem Film vorwerfen, dass er zu viele Kuriositäten an Serges Wegesrand aufreiht und vielleicht zu sehr vom Boden der sozialen Tatsachen abhebt; dennoch bleibt er, zusammengehalten von Gérard Depardieus mächtiger Leinwandpräsenz, ein schöner Gegenentwurf zu jenen Prolo-Komödien à la „Die Beschissenheit der Dinge“ (fd 39 883), die sich als ungeschönte Milieubilder gerieren, letztlich aber Freakshows sind, die Zerrbilder statt Menschen zeigen. „Mammuth“ dagegen weiß durch alle Absurditäten hindurch die Würde seiner Protagonisten zu verteidigen. Das Lachen über sie ist immer empathisch, nie abfällig.
Kommentar verfassen

Kommentieren