Police, adjective

Drama | Rumänien 2009 | 115 Minuten

Regie: Corneliu Porumboiu

Ein rumänischer Polizist soll Beweise gegen einen Jugendlichen sammeln, der angeblich auf dem Schulhof Haschisch raucht, worauf eine mehrjährige Haftstrafe steht. Der Polizist gerät in ein ethisches Dilemma, da der Schüler kein Dealer ist. Der ruhige, meisterhaft entwickelte Film beobachtet präzise Verfolger und Verfolgten und gewinnt aus der Verbindung von klugem Timing und langen Einstellungen ein hohes Spannungspotenzial. Ein Drama über das Verhältnis von Legalität und Legitimität, Gesetz und Gewissen, Recht und Gerechtigkeit, das überdies den mentalen Folgen der Diktatur unter Ceausescu nachspürt. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
POLITIST, ADJECTIV
Produktionsland
Rumänien
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
42 km/Periscop/Racova & Raza Studio/HBO Romania/Romanian C.N.C.
Regie
Corneliu Porumboiu
Buch
Corneliu Porumboiu
Kamera
Marius Panduru
Musik
Dan Dimitriu
Schnitt
Roxana Szel
Darsteller
Dragos Bucur (Cristi) · Vlad Ivanov (Anghelache) · Irina Saulescu (Anca) · Ion Stoica (Nelu) · Marian Ghenea (Anklagevertreter)
Länge
115 Minuten
Kinostart
12.01.2012
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Diskussion
Ein junger Mann verlässt ein Haus, offenbar morgens, den Rucksack auf dem Rücken. Ein anderer nimmt die Verfolgung auf. Dass der eine den anderen verfolgt, ist an dessen Blicken erkennbar, daran, wie er sich im Hintergrund hält, nahe an den Hauseingängen, wie er sein Tempo dem des Vordermanns anpasst, mal verlangsamt, dann beschleunigt. So gehen sie minutenlang hintereinander her durch die Straßen einer kargen Vorortgegend aus mehrstöckigen Arbeiterwohnungen und Parkplätzen. Die Straßen sind nicht geteert, Unkraut wächst auf den Bürgersteigen. Das einzig Bunte sind eine Rumänien- sowie EU-Flagge am Eingang der Schule, wo der junge Mann verschwindet. Die Kamera zeigt auch später selten den Himmel, bleibt nah am Boden, auf Augenhöhe. Kein Dialogsatz fällt in den ersten Minuten: ein Kino der Blicke. Man sieht einem Menschen zu, wie er einen anderen beobachtet. Indem man ihn begleitet, identifiziert man sich mit ihm. Eine Urszene des Kinos: Verfolgungsjagd, Bewegung, Action, hier unter der Decke der Alltäglichkeit. Die beiden, Verfolger und Verfolgter, und die Kamera als unsichtbarer Dritte werden sich bis zum Ende des Films nicht trennen. Immer wieder gibt es Momente geduldiger Beobachtung: Szenen, in denen die Kamera den ganzen Raum als Totale zeigt und zwei Punkte in ihm für den Zuschauer als verbunden zeigt. Der Verfolger ist ein Polizist, auch dies ein Urtyp des Kinos wie der Moderne: Wahrheitssuche als verdeckte Ermittlung. Er heißt Cristi. Wenig später sieht man ihn auf einem Revier, verbeulte Metallschränke bergen Aktenordner, alte Computer stehen auf roh zusammengezimmerten Holztischen. Jetzt wird viel gesprochen, zuerst mit Kollegen über andere, die Arbeit, dann mit einem Chef über den aktuellen „Fall“. Dieser betrifft den jungen Mann, den Cristi verfolgt, weil er Haschisch raucht – nach rumänischem Recht droht ihm dafür mehrjährige Haft. Cristi hält seine Ermittlungen für sinnlos, weil der Schüler kein Dealer ist, und außerdem moralisch für falsch, weil Haschisch-Konsum in anderen EU-Ländern kein Strafdelikt mehr ist. Der Westen ist auch für seinen Chef ein Maßstab, wenn es darum geht, wohin man seine Hochzeitsreise macht, und ob Bukarest den Titel „Kleines Paris“ verdient. Im Fall des Schülers aber lässt er nicht mit sich reden. Er liest grundsätzlich seine Akten nicht und hört kaum zu, wenn es um Inhalte geht. Ihn interessiert nur die formale Erfüllung der Vorschriften. Um die zu erreichen, über er Druck aus. So erlebt man Cristi im Widerstreit: Gerade weil er ein guter Polizist sein will, geht es auch ihm um die Wahrheit, nur dass die eben nicht mit den Vorschriften identisch ist. Cristi will dem Verdächtigen keine Falle stellen; im Gegenteil: er sammelt auch entlastende Indizien. Hinzu kommt der Alltag des Ermittlers: Im Büro verbringt er viel Zeit mit den Wegen von Abteilung zu Abteilung, dem Ausfüllen von Formularen, was ihm selbst sinnlos erscheint. Zuhause unterhält sich der frisch Verheiratete über Gedicht-Interpretationen und die Definition von Schönheit – was man in seinen Details durchaus auch als subtilen Selbstkommentar des Films verstehen kann. Mehr und mehr spitzt sich Cristis ethisches Dilemma zu. Ist es nur Zufall, dass er bei einer Nummernschild-Abfrage das „J“ als „J wie Judas“ buchstabiert, dass er selbst Cristi heißt? Seine Situation ist im mehrfachen Sinn absurd. Tatsächlich denkt man an die Szenarien Kafkas und Becketts, an Romane von Sartre und Camus. Am Ende mündet alles in ein langes sophistisches Streitgespräch zwischen philosophischem Diskurs und bürokratischer Rabulistik. Darin geht es um das Verhältnis von Legalität und Legitimität, Gesetz und Gewissen, Recht und Gerechtigkeit und um die Pflichten eines Polizisten: Sogar ein Wörterbucheintrag wird aufgesucht, doch auch dort findet sich keine befriedigende Definition von „Polizist“. Corneliu Porumboius zweiter Spielfilm (nach „12:08 Jenseits von Bukarest“, 2006) erinnert mit seinem Sinn für Timing und der Verbindung von langen Szenen mit intensiver Spannung an Robert Bressons „Pickpocket“ (fd 12 821); zugleich besitzt er alle Tugenden des rumänischen Kinos: genaueste, geduldige Beobachtung von Figuren und ihrer Situationen, zugleich deren clevere Zuspitzung bis zu absurder Situationskomik. Der Film nimmt sich Zeit, ist trotzdem spannend und intensiv, kurzweilig. Porumboius Rumänien hat nichts mit jenem betont schmutzigen, moralisierenden Sozialrealismus gemeinsam, der seit Cristian Mungius „4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage“ (fd 38 441) das internationale Image des rumänischen Kinos monopolisiert (obwohl Mungius Film schon deshalb untypisch für die „Neue Welle Rumäniens“ war, weil er unter der Ceausescu-Diktatur spielte). Die Diktatur ist auch bei Porumboiu präsent, aber anders: in ihren Folgen für das Denken und Empfinden der Menschen, wo sie weiterlebt, und für die Obrigkeit. Folgt man Porumboiu, dann ist Demokratie in der Praxis nur die Diktatur der Diktatur mit anderen Mitteln, und das Antlitz der blinden Justitia des Rechtsstaats nur die Maske der Willkür. In diesem Zusammenhang leistet der passive, anständige Polizist Cristi auf seine Art Widerstand.
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