Drama | Frankreich/Belgien 2010 | 89 Minuten

Regie: Yann Samuell

Eine Karrierefrau bekommt an ihrem 40. Geburtstag Briefe, die sie als Siebenjährige an sich selbst schrieb. Die darin niedergelegten erträumten Lebensentwürfe stehen im Gegensatz zu der auf Geld und Erfolg ausgerichteten Wirklichkeit der Erwachsenen. Ein doppelbödiges, in der Hauptrolle hinreißend gespieltes Frauenporträt, hinter dessen scheinbar sentimental-nostalgischen Tendenzen die Geschichte einer Traumatisierung ausgelotet wird. Die Niedlichkeit und Wärme, mit der die kindliche Welt zunächst im Kontrast zur kühl-rationalen Gegenwart der Figur dargestellt wird, entpuppt sich dabei auf reizvolle Weise als trügerisch. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
L' ÂGE DE RAISON
Produktionsland
Frankreich/Belgien
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Nord-Ouest Prod./Rhône-Alpes Cinéma
Regie
Yann Samuell
Buch
Yann Samuell
Kamera
Antoine Roch
Musik
Cyrille Aufort
Schnitt
Andrea Sedlácková
Darsteller
Sophie Marceau (Margaret) · Marton Csokas (Malcolm) · Michel Duchaussoy (Mérignac) · Jonathan Zaccaï (Philibert) · Emmanuelle Grönvold (De Lorca)
Länge
89 Minuten
Kinostart
23.12.2010
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
Niedlich ist die Folk-Pop-Musik von Liza Mitchell, die es hier zu hören gibt. Niedlich ist auch die kindliche Fantasie, die aus Protest und Ohnmacht schöpft. Wer immer hört, er müsse sein Tellerchen leer essen, weil die Kinder in Afrika doch hungern müssen, kommt irgendwann auf die Idee, ein Loch zu buddeln, bis nach Afrika, und das ungeliebte Brot einfach hineinzuwerfen, um so den Hungernden eine Freude zu machen. Das könnte auch mit Atommüll gut funktionieren (aber dies nur am Rand). Margaret ist eine toughe Karrierefrau, die den Chinesen Atomkraftwerke andreht und dabei eher an Profit denn an Sicherheit denkt. Aber der Erfolg gibt ihr Recht, wenngleich es irgendwann stutzig macht, dass Margaret immer, wenn es brenzlig wird, die Namen „starker Frauen“ („Ava Gardner“, „Marie Curie“, „Maria Callas“) als Mantra nutzt. Ausgerechnet an ihrem 40. Geburtstag bekommt Margaret unangekündigten Besuch aus der Provinz: Der schrullig-weise Notar Monsieur Merignac händigt ihr sieben an sie adressierte Briefe aus, verfertigt von Kinderhand. „Als das Kind noch Kind war...“ Bei den Briefen handelt es sich um eine Flaschenpost aus der Vergangenheit, denn als Margaret noch Marguerite hieß und sieben Jahre alt war, schickte sie diese Briefe in die Zukunft. Man ahnt früh: Konfrontiert mit den kindlichen Lebensentwürfen („Tierärztin für Wale“, „Heilige“, „Marsforscherin“) offenbart sich der berufliche Erfolg als Entfremdung, wenngleich Margaret/Marguerite sich lange gegen diese Einsicht stemmt. Mit der Lektüre der Briefe kommen die Erinnerungen an die Kindheit, und es ehrt den Regisseur und Drehbuchautor Yann Samuell, dass er unverhohlen romantisch die beiden Welten (hier: Gegenwart, Beruf, tendenziell monochrom, kühl; dort: Vergangenheit, Kindheit, bunt, warm) ziemlich simpel als Mischung aus „Die fabelhafte Welt der Amelie“, fd 34 999) und „Der kleine Prinz“ gegeneinander ausspielt, was visuell sogar einige Funken schlägt und „Vergissmichnicht“ zunächst als ein weiteres „Feel Good-Movie“ für Arthaus-Best-Agers erscheinen lässt. Interessanterweise aber verdüstert die Erinnerungsarbeit nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit. Denn die Kindheit taugt zwar als Reservoir für Ideen eines anderen, besseren Lebens, aber eben nur bis zu einem gewissen, zeitlich konkret bestimmbaren Punkt – dem Augenblick, als Marguerites Vater die Familie verließ. Hier gründet Margarets Trauma, und erst im Verlauf der Anamnese wird klar, dass hier keine idyllische Kindheit rekonstruiert werden soll, sondern dass die Verwandlung von Marguerite in Margaret tatsächlich sehr konsequent ist – und von Marguerite selbst initiiert wurde. Das Zerbrechen der Familie, die sich anschließende Armut und die Einsamkeit im Internat haben Marguerite frühzeitig gezwungen, sich auf die „Zeit der Vernunft“ einzulassen, auf ein Leben, das allein Reichtum und Erfolg verpflichtet ist. Insofern erzählt „Vergissmichnicht“ mit Bildern, die ganz Anderes zu tun scheinen, die recht drastische Geschichte einer Traumatisierung, die trotz aller am Wegesrand ausgebreiteten Sentimentalitäten eher trocken auserzählt wird. Als die postalische Therapie beendet ist, hat sich Margaret ihrer Verletzungen und Enttäuschungen versichert und kann vielleicht ihre Gegenwart und ihre einstigen Träume noch einmal in einen (hier allerdings in einen ins Ironisch-Märchenhafte verzerrten) Zusammenhang gebracht werden. Man sollte also den herzigen Bildern und der ausgestellten Niedlichkeit von „Vergissmichnicht“ nicht über den Weg trauen: Der Film könnte sich bei näherem Hinsehen als ein mit Arsen gefülltes Praliné erweisen. Dass man dieser Lesart nicht folgen muss, um dem Film etwas abzugewinnen, liegt an Sophie Marceau, die von einigen wenigen, etwas zu gut gemeinten Manierismen wieder einmal eine hinreißende Darstellung abliefert, sich auch für plakativ gezeichnete Emotionen nicht zu schade ist und in dieser Rolle gerade überzeugt, weil sie es ausgezeichnet versteht, „jugendlicher“ zu spielen als sie es ist. Auch darin ist der Film erstaunlich doppelbödig: „Vergissmichnicht“ ist auch eine Liebeserklärung an die vielseitige Sophie Marceau; eine Liebeserklärung, die sich allerdings nicht andient.
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