Das Labyrinth der Wörter

Drama | Frankreich 2010 | 82 Minuten

Regie: Jean Becker

Filmdaten

Originaltitel
LA TÊTE EN FRICHE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
K.J.B. Prod./ICE3/France 3 Cinéma
Regie
Jean Becker
Buch
Jean Becker · Jean-Loup Dabadie
Kamera
Arthur Cloquet
Musik
Laurent Voulzy
Schnitt
Jacques Witta
Darsteller
Gérard Depardieu (Germain) · Gisèle Casadesus (Margueritte) · François-Xavier Demaison (Gardini) · Claude Maurane (Francine) · Patrick Bouchitey (Landremont)
Länge
82 Minuten
Kinostart
06.01.2011
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Concorde (16:9, 2.35:1, DD5.1 frz./dt., dts dt.)
Verleih Blu-ray
Concorde (16:9, 2.35:1, dts-HDMA frz./dt.)
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Diskussion
Die Prinzessin lächelt und sagt: „19.“ Während der Jüngling neben ihr noch Mühe hat, die Tauben in dem idyllischen Park zu zählen, weiß sie bereits das Ergebnis. Aber der junge Mann gefällt ihr, also lädt sie ihn zu sich auf die steinerne Bank ein. Er zählt die Tauben anders, nach den Namen, die er ihnen gegeben hat. Als er bei „Marguerite“ ankommt, unterbricht sie ihn. „So heiße ich auch, aber mit zwei ,t‘“. Ihr Vater habe es nicht so genau mit der Rechtschreibung genommen. Das ist der Beginn einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte in Märchengestalt. Ort und Zeit spielen keine Rolle, obwohl es irgendwo in der unberührten französischen Provinz sein muss, dort, wo Jean Becker stets seine wundersamen, altmodischen Filme dreht. In Frankreich kommen sie gut an, auch „La tête en friche“, was so schön doppeldeutig klingt und sowohl einen Hohlkopf wie ein brachliegendes Gehirn meint. Becker ist 77 Jahre alt, er holt gerne die Zeit seiner Jugend zurück, als das Leben noch einfach war, ohne Hightech und anderen modischen Schnickschnack. Seine Prinzessin ist im Film 95 Jahre alt, während Germain, der junge Taubenzähler, um die 50 sein soll, was man Gérard Depardieu fast sogar abnimmt. Sechs Mal treffen sich die beiden auf der Parkbank, um miteinander zu sprechen und einander vorzulesen. Einmal lädt sie ihn nach Hause ein; und bei der achten Begegnung entführt er sie. „Das Labyrinth der Wörter“ ist kein übliches Kinomärchen, sondern Seniorenkino in seiner schönsten Art, denn hier wirkt nichts gekünstelt oder dediziert nostalgisch. Der Film ist eine Art „amour fou“, denn die beiden passen nicht zusammen. Margueritte war Wissenschaftlerin bei der WHO, Germain verdient sein Geld als Gelegenheitsarbeiter auf dem Bau oder dem Wochenmarkt, obwohl er am liebsten Gärtner ist. Das Lesen fällt ihm nicht leicht; schon in der Schule hatte er Probleme damit, wie die erste Rückblende zeigt. Mit seiner Mutter, einer einfachen Frau, die ihren Mann mit der Mistgabel attackierte, kam er auch nicht so gut zurecht. Das ist heute noch so, weil der ungelernte und übergewichtige Loser in einem Wohnwagen auf dem Grundstück jenes Hauses wohnt, in dem sie lebt. Germain hat eine Freundin. Diese ist Busfahrerin und etwa Mitte 20. Sie ahnt nichts von Margueritte, die immer ein Buch dabei hat, wenn sie in den Park kommt. Wenn sie Germain vorliest, sieht er alles plastisch vor Augen – die Ratten aus Albert Camus’ „Die Pest“ oder den Leoparden aus „Der Alte, der Liebesromane las“ von Luis Sepulveda –, weshalb er selbst anfängt, abends zu lesen. Becker inszeniert dies als einen Moment der Entspannung und Anspannung zugleich, wenn der unbeholfene Dépardieu das Buch nimmt und stöhnend „Die Pest“ zu lesen beginnt. Die Konsequenzen sind bald zu spüren: Er entfremdet sich von seinen Kumpanen in der Kneipe, spricht anders und interessiert sich nicht mehr für den Tratsch der anderen. Dafür werden ihm die Mittagstreffen mit Margueritte, die im Altersheim lebt, immer wichtiger. Er überwindet sich und lernt, unterstützt von seiner jungen Freundin Annette, das Vorlesen, als Margueritte ihm eröffnet, dass sie erblindet. In der idyllischsten Szene liegen Germain und Annette im Bett, er liest stockend, sie ist dicht bei ihm und hört zu, ebenso die schnurrende Katze. In der witzigsten Szene liest er allein der vor ihm auf dem Küchentisch liegenden Katze aus dem „Petit Robert“ vor, dem französischen Duden, bis er das Buch entsetzt in die Ecke wirft, weil dieses nur eine Tomatensorte kennt; in der poetischsten Szene liest Margueritte Germain von einer Liebe vor, die keine Liebesbekenntnisse braucht, weil auch so deutlich wird, dass sich beide lieben. In „Das Labyrinth der Wörter“ gibt es Dialoge, die alles auf den Punkt bringen – und eine ungewohnt sanft fließende, helle Instrumentalmusik von Laurent Voulzy, der seit den 1970er-Jahren eigentlich primär Schlager singt. Die große Überraschung ist allerdings, dass in einem Film von Jean Becker sich die sonst allem Fremden so misstrauisch gegenüber stehenden Provinzler in Gestalt von Germain so schnell auf etwas Neues einlassen. In der behutsamen Inszenierung wird die Geschichte zu einem Seniorenmärchen, bei dem man nie so recht weiß, ob die Überwindung des Quasi-Analphabetentums oder eine echte Liebesgeschichte im Vordergrund steht. Diese ist keineswegs peinlich, vielmehr sehr emotional gestaltet; inklusive der kurzen Ratten-Schockbilder in Schwarz-Weiß oder einer geheimnisvollen schwarzen Schnur in dem Kästchen, das Germain von seiner Mutter erbt und das gar nichts Märchenhaftes hat. Im Gegenteil: Zwischen den vielen lieblichen Szenen schimmert oft eine gewisse Brutalität durch, die vor allem Germains Mutter kennzeichnet. Es geht um die Bedeutung von Familie und Freunden, und wie immer findet Becker eine kleine Weisheit für den Alltag: „Das Leben macht dir Versprechen, die es nicht einhält.“
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