Glückliche Fügung

Drama | Deutschland 2010 | 90 Minuten

Regie: Isabelle Stever

Eine nicht mehr ganz junge Frau wird in der Silvesternacht schwanger. Der Mann, eine Zufallsbekanntschaft, zeigt sich über die Vaterschaft erfreut; die Frau geht eine Beziehung zu ihm ein und zieht mit ihm zusammen, obwohl er ihr fremd bleibt. Das familiäre Zusammenleben nimmt für sie mehr und mehr klaustrophobisch-beklemmende Züge an. Ohne präzise Psychologisierung der Figuren und ihrer Motive entfaltet das distanzierte, gleichwohl dichte Drama vor allem durch die konsequente filmische Umsetzung einen sublimen Horror, der gängige Glücksvorstellungen in Frage stellt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
moneypenny filmprod./ZDF/ARTE
Regie
Isabelle Stever
Buch
Anke Stelling · Isabelle Stever
Kamera
Bernhard Keller
Musik
Yoyo Röhm · Jupiter Moll · Louis Marioth
Schnitt
Bettina Böhler
Darsteller
Annika Kuhl (Simone) · Stefan Rudolf (Hannes) · Arno Frisch (Herbert) · Maria Simon (Susa) · Juan Carlos Lopez (Helmut)
Länge
90 Minuten
Kinostart
20.01.2011
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Diskussion
„Glückliche Fügung“: Schon der Titel riecht nach einer kleistschen Novelle. Eine unerhörte Begebenheit stellt das Vernunftgesetz in Frage, bis, wie im Fall der „Marquise von O.“, durch eine „glückliche Fügung“ des Schicksals die Weltordnung (scheinbar) wieder hergestellt wird. Es bleibt allein die Erinnerung an ein Skandalon. Weit hergeholt? Vielleicht. Der dritte Spielfilm von Isabelle Stever („Gisela“, fd 38 074) – bekannt auch durch ihren bösen Beitrag zum Episodenfilm „Deutschland 09“ (fd 39 200) „Eine demokratische Gesprächsrunde zu festgelegten Zeiten“, der zeigt, wie eine junge Lehrerin ihre Schüler in einer Konfliktsituation sanft, aber unnachgiebig manipuliert – erzählt eine ganz einfache, ganz fundamentale Geschichte auf eine derart stilbewusste, formal durchdachte Weise, die aufhorchen lässt. Was macht das Glück einer Zweierbeziehung aus? Wie groß sind die Aussichten, in heutiger Zeit eine romantische Liebe mit allen kommunikativen Zumutungen der emotionalen Transparenz zu etablieren? Und was, wenn das, was allgemein vielleicht als „Glück“ bezeichnet wird, gar nicht so empfunden wird? Sondern als eine Art von Lebendig-Eingemauert-Werden, als ein Abschnüren der Luft zum Atmen? Schon wenn man Simone zum ersten Mal sieht, wirkt sie einsam und unsicher. Nicht mehr ganz jung, nicht adrett herausgeputzt, geht sie an Silvester in eine Kneipe. Nicht, um zu feiern, sondern wohl eher, um unter Menschen allein zu sein. Als der Morgen graut, wacht sie im Auto eines fremden Mannes auf, mit dem sie geschlafen hat. Später erfährt sie, dass sie schwanger ist, und wiederum etwas später trifft sie Hannes wieder, der in der Palliativmedizin beschäftigt ist und sich sehr erfreut über seine kommende Vaterschaft zeigt. Hannes scheint ein freundlicher, sanfter, vielleicht auch etwas unbedarfter Mensch. Doch Simone ist seine Nähe zuwider; wenngleich sie sich nicht dagegen wehrt, wirkt sie mal abwesend, mal misstrauisch, mal unzufrieden. Isabelle Stever wollte nach eigener Aussage einen Horrorfilm drehen und hat nach formalen Mitteln gesucht, den unspektakulären Schrecken darzustellen. Dies gelingt ihr (wie auch der literarischen Vorlage, einer Erzählung von Anke Stelling) durch die Erzählperspektive: Der Zuschauer wird Zeuge, wie Simone auf ihre Umwelt reagiert, bekommt aber keine psychologisierende Binnenperspektive geliefert, die deren eigenwilliges Verhalten interpretiert. Durch Kleidung und Habitus erscheint Simone als Außenseiterin, die auf Distanz beharrt, je näher ihr andere Menschen kommen. Zugleich versucht sie, sich mühevoll in ihrer neuen Situation – schwanger, neue Beziehung zu einem fast Unbekannten, neue Behausung in einem Bungalow – zu orientieren. Die Kamera schafft mit ihrem Tunnelblick eine unheilvolle Atmosphäre: Je dicker Simones Bauch wird, desto näher rückt eine mögliche Katastrophe. Nicht grundlos könnte Simone sagen, der Vater ihres Kindes sei ein Sterbehelfer, ihr Sterbehelfer. Das Glück im Winkel als Gefängnis, eine kafkaeske Situation: umstellt von freundlichen Menschen, die es nur gut mit einem meinen. Und doch ... Unwillkürlich fühlt man sich an Jessica Hausners „Hotel“ (fd 37 671) erinnert: Auch dort wurde der atmosphärische Schrecken rein filmisch evoziert, lag gewissermaßen jenseits der Handlung. Andere Figuren treten hinzu, buchstäblich. Sie bleiben skizzenhaft, ihr Handeln, ihre Motive sind mysteriös: die neue Nachbarin, der alte Bekannte. Einmal, während einer Radfahrt, versucht Simone verzweifelt, ihren Albtraum gewaltsam zu beenden. Gelänge ihr dies, ihre Umwelt reagierte sicher bestürzt und ratlos, weil doch „eigentlich“ alles glücklich gefügt gewesen sei. Lange Einstellungen, ein Beharren auf formalen Lösungen fürs filmische Erzählen, Distanz zu Handlung und Figuren, Ellipsen, Verzicht auf Binnenperspektiven und Psychologisierung – „Glückliche Fügung“ wirkt wie ein etwas verspäteter Nachzügler von Filmen, die man leichthin unter „Berliner Schule“ rubriziert hat. Während einige ihrer Exponenten, etwa Thomas Arslan, Angela Schanelec oder Benjamin Heisenberg, inzwischen ihren Blick öffneten, neue Wege beschritten und Experimente wagten, versammelt Stever noch einmal mustergültig alle Tugenden dieser Art des Erzählens am hierfür maßgeschneiderten Stoff. Für Zuschauer, die an eine konventionelle Fernsehspiel-Dramaturgie gewöhnt sind, mag „Glückliche Fügung“ Arbeit bedeuten; gleichwohl verdient sich Stevers Film problemlos den Ehrentitel „Widerstrebige Fügung“.
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