In der Welt habt ihr Angst

Melodram | Deutschland 2010 | 109 Minuten

Regie: Hans W. Geissendörfer

Ein Junkie-Pärchen will sich zum kalten Entzug nach Neuseeland absetzen, verwickelt sich aber beim Versuch, das notwendige Geld zu beschaffen, in Verbrechen. Die junge Frau, die unter der gespannten Beziehung zu ihrem Vater leidet, setzt alles daran, den gemeinsamen Traum doch noch zu erfüllen. Das Melodram verwebt Love-Story, Drogen-Problematik und eine Vater-Tochter-Beziehung, wobei vor allem das nuancenreiche Spiel der Darsteller mitreißt. Psychologisch gelegentlich etwas zu engmaschig gestrickt, entwickelt der Film seinen Reiz über die stimmungsvolle visuelle Gestaltung und die einfühlsame Musik. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
gff geißendörfer film- & fernsehprod./DFFF
Regie
Hans W. Geissendörfer
Buch
Hans W. Geissendörfer
Kamera
Alexander Fischerkoesen
Musik
Daniel Werner
Schnitt
Oliver Grothoff
Darsteller
Anna Maria Mühe (Eva Baumann) · Max von Thun (Jo Kramer) · Axel Prahl (Paul Krämer) · Hanns Zischler (Johannes Baumann) · Kirsten Block (Gisela Krämer)
Länge
109 Minuten
Kinostart
03.03.2011
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Melodram
Externe Links
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Diskussion
„Wir leben Gott sei Dank in einem Rechtsstaat, und da unterliegen selbst die stärksten Gefühle dessen Ordnungsprinzipien. Du kannst Eva nur helfen, wenn du sie zu dieser Ordnung zurückführst.“ Das ist der Rat, den Kantor Johannes Baumann dem Ex-Freund seiner ihm schon lange entglittenen Tochter mit auf den Weg gibt. Tom, der Eva immer noch abgöttisch liebt, wird ihn letztendlich in einem Akt aus Verzweiflung, Hilflosigkeit und Eifersucht befolgen – wohl wissend, dass er damit Eva für immer verliert. Die Verzweiflung ist es auch, die die Protagonisten in Hans W. Geißendörfers autobiografisch gefärbtem, zwischen Love-Story, Drogen-Problematik und Vater-Tochter-Konflikt angesiedeltem Melodram innerlich verbindet. Dabei beginnt alles eher märchenhaft-verklärt mit einer schwarz-weißen Sequenz: Eva und ihr Freund Jo setzen sich gegenseitig ihren letzten Schuss, ehe sie nach Neuseeland aufbrechen wollen, um dort zu arbeiten und clean zu werden. „Ich wollte Jo gern nahe sein – und es war schön“, wird Eva später einmal auf die Frage antworten, warum sie drogenabhängig geworden ist. Mit der Farbe hält dann die Realität Einzug in die Geschichte, die dem Vorhaben von Eva und Jo einige Steine in den Weg legt. Denn woher die 3.000 Euro für den Flug nehmen, wenn nicht stehlen? Evas Einbruch in die Wohnung ihres Vaters ist ebenso wenig von Erfolg gekrönt wie der Versuch, sich von Tom Geld zu leihen. Sie beschließen, einen befreundeten Antiquar auszurauben – mit fatalen Folgen: Dieser bemerkt Jos Griff in die Ladenkasse und bedroht ihn mit der Pistole, Eva schlägt ihn nieder. Als die Polizei eintrifft, gelingt ihr die Flucht, während Jo verhaftet wird. Bewaffnet mit der Pistole des Buchhändlers, nimmt Eva den Alt-Philologen Paul, der gerade von seiner Frau verlassen wurde, als Geisel in seinen eigenen vier Wänden. Ihr Plan: Jo irgendwie herausholen, um sich doch noch den gemeinsamen Traum zu erfüllen. Dabei kommt ihr Pauls Verzweiflung ebenso zugute wie Toms. So werden beide zu ihren Komplizen. Einmal mehr benutzt Geißendörfer eine märchenhafte, diesmal ins transzendente abdriftende Metapher, um die Realität zu brechen: Der Gitarrist und Sänger Jo und die Musikstudentin Eva sind telepathisch durch ihre Liebe zur Musik sowie die Schmerzen ihres „kalten Entzugs“ verbunden. So spürt sie Jos Selbstmordversuch, was es ihr und Paul ermöglicht, ihn aus dem Gefängniskrankenhaus zu befreien. Während der von der Polizei verfolgte Paul mit seinem Auto verunglückt, finden Jo und Eva Unterschlupf im verlassenen Bauernhof von Toms Eltern. Hans W. Geißendörfer, Urgestein des Neuen deutschen Films der 1960er- und 1970er-Jahre, lässt sich, seitdem er als Regisseur und Produzent 1985 die „Lindenstraße“ aus der Taufe hob, nur noch sporadisch auf der Kinoleinwand blicken. Hatte er zuletzt in „Schneeland“ (fd 36 874) bildgewaltig die archaische Kraft von Liebe und Tod beschworen, verbindet er diesmal eine bedingungslose Liebe – Jo nimmt den Totschlag des Antiquars auf seine Kappe – mit der Frage nach Buße. „Wie kann ich mit dieser Schuld weiterleben? Strafe hat doch nur einen Sinn, wenn man etwas wieder gut machen kann“, quält Eva das Gewissen. Die von Alexander Fischerkoesens Bild- und Lichtgestaltung ins Halbdunkel gesetzten Räume, wie die Wohnungen von Evas Vater und von Paul, korrespondieren stimmungsvoll mit der Seelenlage der Protagonisten, denen Geißendörfer vielleicht einen Tick zu viel existenzielle Dramatik aufbürdet. So ist der moralisch „gnadenlose“ Kantor auch noch verwitwet; Tom darf ein wenig in der Klischee-Psychologie herumstochern („Du liebst Joe doch nur aus Protest gegen deinen Vater“). Paul dagegen trauert einem von seiner Frau abgetriebenen Wunschkind hinterher, was dann allzu durchsichtig seine Vatergefühle gegenüber Eva erklärt, die obendrein schwanger ist. Das präzis geführte Schauspieler-Ensemble umschifft mit seinen überzeugenden Rollen-Interpretationen aber geschickt die dramaturgischen Holprigkeiten. Vor allem Anna Maria Mühe und Max von Thun gelingen durch ihr intensives Zusammenspiel berührende Momente, und Hanns Zischlers gibt seiner Vater-Figur die beklemmende Sprach- und Ratlosigkeit einer in Konventionen erstarrten Elterngeneration, die auf die Obsessionen ihrer Kinder nur Liebesentzug reagieren kann. Nur Axel Prahl wirkt durch seine Langhaar- und Hornbrillen-Maskerade ein wenig wie die Karikatur eines Intellektuellen. Während Geißendörfers geschickt mit den Einstellungsgrößen spielende Inszenierung dem Film optischen Reiz beschert, „erklären“ und verstärken die Bach-Kantate „In der Welt habt ihr Angst“ und die durch Electrica-Sound aufgepeppten Folk-Pop-Songs von Patty Moon die Charaktere von Eva und Jo und lassen ihre gefährliche Gratwanderung zwischen Hoffen und Bangen, Traum und Realität emotional miterleben.
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