Man Tänker Sitt

- | Schweden 2009 | 77 Minuten

Regie: Henrik Hellström

Ein Junge fühlt sich von den Normierungsansprüchen in einer schwedischen Kleinstadt eingeengt. Als allwissender Erzähler kommentiert er das Porträt eines trügerischen Sozialstaat-Idylls nicht nur mit zivilisationskritischen Thoreau-Zitaten, sondern stellt auch andere Außenseiter vor, deren Schicksale untereinander nicht direkt verbunden sind, aber doch eine innere Verwandtschaft zu haben scheinen. Die atmosphärisch stimmige, dramaturgisch lose Zustandsbeschreibung einer bürgerlichen Welt, deren behäbige Sicherheit mit unterschwelligen Zwängen einhergeht. - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
MAN TÄNKER SITT
Produktionsland
Schweden
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
Fasad/Cinepost Studios/Film i Halland/Film i Väst
Regie
Henrik Hellström · Fredrik Wenzel
Buch
Henrik Hellström · Fredrik Wenzel
Kamera
Fredrik Wenzel
Musik
Erik Enocksson
Schnitt
Henrik Hellström · Fredrik Wenzel
Darsteller
Sebastian Eklund (Sebastian) · Jörgen Svensson (Jimmy) · Hannes Sandahl (Anders) · Marek Kostrzewski (Mischa) · Bodil Wessberg (Mutter)
Länge
77 Minuten
Kinostart
03.03.2011
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Die Welt zu vergessen, ist nicht immer Zweck eines Kinobesuchs. Aber man vergisst sich dort meistens selbst: Mit der Geschichte setzt ein künstlicher Amnesiezustand ein, das Erwachen in einem Erzählraum, in dem man sich zurechtfinden muss: Was geschah vor dem Vorspann? Wo ist man gelandet? Was sind das für Leute, und was bewegt sie? Meistens bemühen sich Szenaristen wie Regisseure nach Kräften, die offenen Fragen schnell zu klären. Bei „Man Tänker Sitt“ ist das anders. Dem virtuellen Gedächtnis wird nicht nachgeholfen. Das gilt weniger für die Figuren als für den Schauplatz des Films, ein unergründliches Archipel. Die Topografie dieser westschwedischen Siedlung ist anfangs auf einem Satellitenbild zu sehen und wirkt dort – weiße Zeichnung auf schwarzem Grund – wie eine Festung. Das Luftbild legt sich schwer auf die Szenen eines Mittsommers, in dem doch alles seine heitere Ordnung haben könnte: Bei herrlichem Wetter kurvt die Kamera um sauber geschnittene Hecken und frisch gemähte Rasenstücke, sie zeigt Kleinstadtbewohner, die mit verhedderten Gartenschläuchen hantieren und sich in Ikea-Wohnzimmern Tee einschenken. Doch der Blick auf diese Normalität ist wie verhext, der Alltag wie aus seinen Verankerungen gesprungen. Die Regisseure Henrik Hellström und Fredrik Wenzel stammen aus vergleichbaren Kleinstadtidyllen. Sie kennen das Labyrinth aus Behaglichkeit, Gleichmut und Verhaltensregularien offenbar genau. Wie anders könnte eine solche Szene zustande gekommen sein: Ein Junge wird von seiner Mutter in Festtagskleider gesteckt wie in eine Zwangsjacke. Ein langer, quälender Normierungsprozess. Das Unbehagen des Elfjährigen teilt sich körperlich mit, selbst die Kamera scheint sich zu winden. Sebastian heißt dieser Junge. Ein Autist vielleicht, aber das wäre bereits eine psychologische Zuschreibung, für die sich Hellström und Wenzel kaum interessieren. Sebastian ist ein Kind, das sich in der Zivilisation bewegt wie der Besucher eines fernen Planeten. Er streift zwischen den Häusern und in der umliegenden Natur herum. Wenn er sich langweilt, spielt er auf Risiko, wirft Eisenschrott auf eine Landstraße und versenkt ein goldenes Familienerbstück im Gulli. Ein schwieriges Kind. Und ein weises Kind, denn Sebastian fungiert zugleich als allwissender Erzähler. Mehrmals hört man ihn Sätze von Henry David Thoreau sprechen, jenem amerikanischen Schriftsteller, der gesellschaftlichen Konventionen misstraute und die „Unschuld und Güte der Natur“ suchte. „Man Tänker Sitt“ bedeutet so viel wie „Man denkt sein Eigenes“. Ein mit fremder Philosophenzunge redendes Kind führt diesen Satz allerdings gründlich ad absurdum. „Mein Instinkt sagt mir, dass mein Kopf ein Organ zum Graben ist“, gibt Sebastian einmal preis. Er ist auf der Suche, nach irgendetwas. Manchmal fragt man sich allerdings, ob die Aphorismen der Tonspur nicht das verdoppeln, was die Kamera ohnehin erzählt. Sebastians Off-Stimme stellt auch drei Männer aus der Nachbarschaft vor und beschreibt ihre Eigenheiten. Da ist Jimmy, der bei seinen Eltern lebt, ohne einen eigenen Haustürschlüssel zu besitzen. Mit seinem Baby im Arm läuft er ziellos durch die Gegend. Als er auf einem Supermarkt-Parkplatz Silas’ Windeln wechseln will, gerät er mit einer Kundin aneinander, die drauf und dran ist, die Behörden zu alarmieren: Das Kind müsse in staatliche Obhut. Gefilmt ist die Szene von oben, wie mit versteckter Kamera. Amüsant sind die fast brutalen Reflexe einer schwedischen Sozialstaatsbürgerin allerdings kaum. Nicht nur hier legen Hellström und Wenzel den Finger auf Risse im System (ohne explizite politische Zielsetzungen). Sie deuten auf Gräben, die sich zwischen den Gutbetuchten und den Außenseitern auftun, auch wenn die Mehrzahl der Teilzeitnomaden dem Wohlstandsghetto entstammt. Eine Ausnahme ist Mischa, ein alter Einwanderer, der in einem Bach fischt, die Villenbesitzer mit seinem blanken Hintern provoziert und irgendwann einfach nicht mehr weiterleben will. Wie ein sterbendes Tier verkriecht er sich im Wald, verschwindet im Unterholz und aus dem Film. Außerdem macht Sebastian mit Anders bekannt, der, oberflächlich betrachtet, ein bürgerliches Leben führt. Doch auch Anders treibt es immer wieder nach draußen, ins Kanu und auf den Fluss. Während auf der Tonspur mehrmals ein Choral erklingt, bleiben die Protagonisten für sich. Träfen sie zusammen, könnte eine Geschichte beginnen, wie es ansatzweise in Jesper Ganslandts „Falkenberg Farewell“ (2006) geschieht, der von fünf jungen Männern erzählt, die ebenfalls in Westschweden zusammentreffen. Zwar scheint ein unsichtbares Band die Figuren von „Man Tänker Sitt“ zusammenzuhalten: Die Charaktere ähneln einander in ihrer Sehnsucht, Verwirrung und Wut. Wenn Jimmy seinen Vater mit einem Paddel niederschlägt, der einzige Moment offener Gewalt, scheint er die verdrängten Wünsche des von seinem Vater gepiesackten Anders in die Tat umzusetzen. Solche Parallelen ändern nichts daran, dass in diesem Film alles auseinander treibt. Das Bewegungsmuster ist exzentrisch, die Menschen sind traumverloren und hilflos. Einzig Sebastian könnte einen Plan haben. Oder immerhin einen Überblick.
Kommentar verfassen

Kommentieren