Im Himmel, unter der Erde - der Jüdische Friedhof Weißensee

Dokumentarfilm | Deutschland 2011 | 90 Minuten

Regie: Britta Wauer

Dokumentarfilm über den im Jahr 1880 eröffneten Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee. Er streift durch Vergangenheit und Gegenwart des magischen Ortes entlang den Verwerfungen der Zeitgeschichte, zugleich mit vielen intimen Erinnerungen, wobei er nicht chronologisch, sondern atmosphärisch strukturiert ist, was überraschende neue Einsichten ermöglicht. Die geschichtlichen Fakten werden ohne jede didaktische Attitüde mit Informationen aus dem Innenleben der jüdischen Religion durchsetzt. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Britzka Film/RBB/SR/ARTE
Regie
Britta Wauer
Buch
Britta Wauer
Kamera
Kaspar Köpke
Musik
Karim Sebastian Elias
Schnitt
Berthold Baule
Länge
90 Minuten
Kinostart
07.04.2011
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Die DVD enthält eine Audiodeskription für Sehbehinderte. Die Extras umfassen u.a. ein informatives Booklet.

Verleih DVD
Salzgeber (16:9, 1.78:1, DD5.1 dt.)
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Diskussion
Als der Jüdische Friedhof Weißensee 1880 eröffnet wurde, lag er noch vor den Toren der Stadt. Inzwischen befindet er sich längst mitten in Berlin, gar nicht weit vom Alexanderplatz entfernt, eine riesige Fläche geschlossenen Laubwaldes, mit mehr als 115.000 Gräbern unter hohen, schattigen Bäumen. Britta Wauers Film lädt zum Flanieren über diesen Friedhof ein, zum feuilletonistischen Streifzug durch Vergangenheit und Gegenwart, entlang den Verwerfungen der Zeitgeschichte vor allem des 20. Jahrhunderts, und doch zugleich mit vielen intimen Erinnerungen. Die bevorzugte dramaturgische Bewegung des Films ist das Mäandern. Als eine der wenigen durchgängigen Figuren wählt die Regisseurin den Rabbiner William Wolff, der zu Beginn gleichsam die Tür zur Ewigkeit öffnet und sie am Ende lächelnd wieder schließt: „Ich freu’ mich schon“, sagt der alte Mann, „die wieder zu treffen, die ich geliebt habe. Aber was ist mit denen, die ich nicht geliebt habe? Muss ich denen auch wieder begegnen?“ Die Begegnungen, die der kurzweilige Film gestattet, sind dabei so bunt und vielgestaltig, dass keinerlei Langeweile aufkommt. Eine junge Familie hat sich in einer Wohnung auf dem Friedhof eingemietet und gruselt sich bestenfalls, wenn nachts die Füchse ihre Lockrufe ausstoßen. Israelische Soldaten legen Kränze für die jüdischen Kämpfer im Ersten Weltkrieg nieder. Greifvogelexperten klettern auf die Wipfel der Bäume, um die jungen Tiere zu zählen und zu beringen. Am wichtigsten aber sind die Grabmale, vom riesenhaften, extravaganten Monument bis zum kleinsten Fleckchen Erde. Einmal heißt es, unter jedem Stein verberge sich ein Schicksal. Wauer entreißt das eine oder andere dem Vergessen, bringt Biografien zum Klingen: Die Lebenden gehen den Spuren der Toten nach, die Toten grüßen die Lebenden. Wo beginnen, wo enden? Die Regisseurin balanciert klug zwischen Emotion und Erkenntnis, geht ans Gefühl und vermittelt eine Menge Wissen. Es rührt ans Herz, wenn sie einen älteren Besucher aus den USA zum Grab seiner Großmutter begleitet, an dem er weinend innehält und der längst Verstorbenen erzählt, welches Schicksal das Jahrhundert für ihre Söhne bereit hielt: Vernichtung, Verderben, Exil. Eine Schweizerin erinnert an einen ihrer Vorfahren, der 1912 starb und hier begraben liegt: ein schwerreicher Mann, erster Direktor der Berliner Börse, dessen früher Tod ihn vor den Schrecken der Kriege, der Inflation, des Holocaust bewahrten. In Interviews (u.a. mit Hermann Simon vom Berliner Centrum Judaicum) geht der Film der Frage nach, warum die Nazis den Friedhof nicht schändeten: „Man hat’s einfach nicht geschafft.“ Jüdische Jugendliche fanden hier bis 1942 Arbeit und Unterschlupf. Als im April 1945 der erste sowjetische Soldat den Friedhof betrat, so heißt es, hätte es gewirkt, als ob er mit jedem Schritt ein Stück des Hakenkreuzes zertreten wollte. Zu DDR-Zeiten schrumpfte die jüdische Gemeinde in Ost-Berlin auf ein Minimum; nach dem Mauerbau ließ sich kaum noch ein West-Berliner Jude hier begraben. Die DDR-Behörden pflegten das riesige Gelände nur insoweit, als sie es personell und finanziell vermochten: Tropfen auf heiße Steine. Immerhin zeigt der Film Originalaufnahmen aus den späten 1980er-Jahren, als die DDR-Jugendorganisation FDJ zum sonnabendlichen Einsatz aufrief und Hunderte Jugendliche versuchten, die zugewachsenen Gräber und Wege freizulegen. Erinnert wird auch daran, dass eine schon seit Kaiserzeiten geplante Straße quer durch den Friedhof selbst zu DDR-Zeiten, als der neue Stadtteil Hohenschönhausen mit dem Ost-Berliner Zentrum verbunden werden sollte, auf Geheiß Honeckers doch nicht gebaut wurde. Schließlich werden Bilder des Mauerfalls von einem kräftigen „Schalom Alejchem“ begleitet: Der Jüdische Friedhof befand sich nun wieder mitten in der Stadt. Wauer strukturiert den Film nicht chronologisch, sondern atmosphärisch, was wesentlich zur Spannung beiträgt und immer wieder überraschende Einsichten in Historie und Gegenwart ermöglicht. Die geschichtlichen Fakten werden ohne didaktische Attitüde, aber begleitet von einer etwas aufdringlichen Musik, mit Informationen aus dem Innenleben der jüdischen Religion durchsetzt, etwa über Begräbnisrituale und ihren zeitbedingten Wandel. Mag der Rabbiner auch den Kopf über jene Blumensträuße schütteln, die russisch-jüdische Einwanderer neuerdings auf die Gräber ihrer Verstorbenen legen: Gegen diese Erscheinungen der Moderne, die von alten Ritualen wenig weiß, kommt auch er nicht an. Der Film rückt auch ins Bewusstsein, dass sich die Bundeswehr bis heute verpflichtet fühlt, auf Gräbern, die im Dritten Reich keine Steine erhielten, etwa während der großen Selbstmordwelle um 1942, solche zu setzen; und dass die Pflege der Wege und Gräber auf diesem weiträumigen, von Efeu überwucherten magischen Ort im Prinzip nie zu Ende geht. So ist der Jüdische Friedhof Weißensee, der dem Film immer wieder Anlass für eine Fülle poetischer Kamerabilder gibt, Mahnung und Verpflichtung für jede kommende Generation. Eine Aufgabe für die Unendlichkeit.
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