Barfuß auf Nacktschnecken

Drama | Frankreich 2010 | 103 Minuten

Regie: Fabienne Berthaud

Nach dem Tod ihrer Mutter kümmert sich eine arrivierte Pariserin um ihre auf dem Land lebende jüngere Schwester, die sich in einer Fantasiewelt bewegt. In der spannungsgeladenen Annäherung wird sich die Ältere ihrer Lebenslügen bewusst, trennt sich von Mann und Beruf und entwirft mit der Schwester eine gemeinsame Zukunft. Getragen von zwei herausragenden Schauspielerinnen und einem die surreale Fantasiewelt kongenial umsetzenden Szenenbild wirft der Film auf verspielte Art Fragen auf nach dem schmalen Grat zwischen "normal" und "verrückt", wobei er die Zwänge der bürgerlichen Gesellschaft in Frage stellt. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
PIEDS NUS SUR LES LIMACES
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Le Bureau/CinéCinéma
Regie
Fabienne Berthaud
Buch
Fabienne Berthaud · Pascal Arnold
Kamera
Fabienne Berthaud · Nathalie Durand
Musik
Michael Stevens
Schnitt
Pierre Haberer
Darsteller
Diane Kruger (Clara) · Ludivine Sagnier (Lily) · Denis Ménochet (Pierre) · Brigitte Catillon (Odile, Pierres Mutter) · Jacques Spiesser (Paul, Pierres Vater)
Länge
103 Minuten
Kinostart
05.05.2011
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Die Extras der 2 Disk-Special Edition (DVD oder BD) enthalten u.a. ein Feature mit vier im Film nicht verwendeten Szenen (6 Min.). Zudem ist als "Bonus" der abendfüllende Spielfilm "Frankie" (F 2005, Regie: Fabienne Berthaud, 88 Min., mit Diane Kruger, Jeannick Gravelines und Brigitte Catillon) enthalten: (16:9, 1.78:1, DD5.1 frz./dt.). Die Standardausgabe (DVD) enthält bis auf die nicht verwendeten Szenen keine erwähnenswerten Extras.

Verleih DVD
Alamode (16:9, 1.85:1, DD5.1 frz./dt.)
Verleih Blu-ray
Alamode (16:9, 1.85:1, dts-HDMA frz./dt.)
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Diskussion
„Ich spiele toter Hase“, sagt Lily zu ihrer Mutter, die wieder einmal anhalten muss, weil ihre Tochter mitten auf dem Waldweg liegt. Kurz darauf erleidet die Mutter am Steuer ihres Wagens einen Herzinfarkt. Lily setzt sich seelenruhig auf den Heuhaufen, vor dem das führerlose Auto stehen geblieben ist, und starrt stundenlang ihre Mutter an, ohne Hilfe zu holen. Lily, die junge Frau mit dem naiven Gemüt, die gerne knallbunte Kinderkleider trägt, scheint nicht von dieser Welt. Sie hat sich im Wald rund um das Landhaus ihrer Mutter ein eigenes Reich geschaffen. Liebevoll ummantelt sie Baumstämme mit selbst gehäkelten „Kleidern“, während aus dem Waldboden abgerissene Puppenbeine ragen und an den Ästen erhängte Teddys baumeln. Tote Tiere bewahrt sie zunächst im Kühlschrank auf, um dann aus ihrem Fell und anderen Materialien Pantoffel oder skurrile Kunstwerke zu erschaffen. Ihrem Truthahn lackiert sie die Krallen, stülpt sich einen Octopus als Perücke über oder vergnügt sich gleich mit drei pubertierenden Jungs. „Wenn ich schon einen Körper habe, dann doch wohl, um mich seines zu bedienen! Wozu hätte ich denn sonst einen?“, entgegnet sie kindlich-trotzig ihrer moralisierenden älteren Schwester. Clara, Anwaltsgehilfin in der Pariser Kanzlei ihres Mannes Pierre, versucht, Lily über die erste schwere Zeit nach dem Tod der Mutter hinweg zu helfen. Aber weder die Integration in die Stadtwohnung noch die Betreuung durch eine Nachbarin im Haus der Mutter gelingen. Deshalb entschließt sich Clara, zu Lily in den Wald zu ziehen. Damit beginnt ein Beziehungs- und Selbstfindungsprozess zwischen den beiden ungleichen Schwestern, der am Ende zu einem Rollentausch führt: Während Clara lernt, in den Tag hinein zu leben, fängt Lily an, sich mit um den Lebensunterhalt zu kümmern. Mit einem Bully ziehen sie über Wochenmärkte und verkaufen „Pantoffeln, Marmelade & Gemischtes“. Ein „Rollentausch“ findet auch auf der schauspielerischen Ebene statt: In Fabienne Berthauds Spielfilmdebüt „Frankie“ (2005) spielte Diane Kruger ein in die Psychiatrie eingewiesenes Model. Nun wird sie als „Normale“ mit der Welt einer „Verrückten“ konfrontiert. Doch schon bald verschwimmen die Grenzen, und man fragt sich unwillkürlich, wer hier eigentlich verrückt ist: Lily, die nach einem menschlicheren Leben sucht, oder Clara, die vor lauter Rücksicht auf gesellschaftliche Zwänge ihr Leben zu verpassen droht? Die lichtdurchfluteten Bilder lassen Lilys Universum wie einen Traum erscheinen, aus dem es die Geister der Vergangenheit zu vertreiben gilt: Clara bricht mit ihrem Mann, der ihre Schwester unbedingt reglementieren will. Lily rät Pierres Vater zur Scheidung und lässt deren nervigen Hund in ihrer „Kunstsammlung“ verschwinden. Trotz aller Sympathie für die Hauptfigur vermeiden Buch und Regie jede dogmatische Festlegung auf Lilys Welt als verheißungsvolle Utopie, sie erscheint vielmehr wie ein Wunsch aus einem Märchen. Dass man sich dem gerne hingibt, liegt auch an dem kongenialen Zusammenspiel der beiden Schwestern. Ludivine Sagnier wandelt überzeugend auf dem schmalen Grat zwischen Kind und Frau, normal und verrückt, und wirkt auch dann noch authentisch, wenn sie die Grenzen zur einen oder anderen Seite hin auslotet; Diane Kruger, die in ihren US-amerikanischen Produktionen von „Troja“ (fd 36 505) bis „Unknown Identity“ (fd 40 330) oft so eindimensional wirkt, beweist hier wie schon in Jaco van Dormaels „Mr. Nobody“ (fd 39 961), dass sie eine großartige Schauspielerin ist, deren europäische Filme (von „The Piano Player“, fd 36 277, bis „Ohne Schuld“, fd 39 930) hierzulande nur auf DVD erschienen sind. Mit ihrer eindrucksvollen Interpretation der Clara, deren innere Zerrissenheit sie eindringlich sichtbar macht, etabliert sie sich als Charakterdarstellerin. Den poetisch überhöhten Rahmen für diese tragikomische Geschichte bildet das Szenenbild der Künstlerin Valérie Delis, in dem sich Lilys surreale Fantasiewelt irritierend widerspiegelt.
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