Alles, was wir geben mussten

Drama | Großbritannien/USA 2010 | 103 Minuten

Regie: Mark Romanek

Drei Waisen wachsen in einem Internat auf. Das gesellschaftlich vorgegebene Ziel ihres Daseins ist es, als Organspender das Leben anderer zu retten und dafür das eigene zu opfern. Die zwei Mädchen und der Junge hoffen, ihr Schicksal aufschieben zu können, wobei der Junge entscheiden muss, welches der Mädchen seine große Liebe ist. Das in den 1970er- und 1980er-Jahren angesiedelte Drama entwirft eine Welt, in der Menschen als widerstandslose Organlieferanten "gezüchtet" werden. Die verhaltene Inszenierung vermittelt suggestiv die von unterdrückten Gefühlen geprägte Atmosphäre und zeichnet das hintergründig schockierende Bild einer Gesellschaft, die menschliches Leben als "Material" instrumentalisiert. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
NEVER LET ME GO
Produktionsland
Großbritannien/USA
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Fox Searchlight Pic.
Regie
Mark Romanek
Buch
Alex Garland
Kamera
Adam Kimmel
Musik
Rachel Portman
Schnitt
Barney Pilling
Darsteller
Carey Mulligan (Kathy) · Andrew Garfield (Tommy) · Keira Knightley (Ruth) · Isobel Meikle-Small (Kathy als Kind) · Ella Purnell (Ruth als Kind)
Länge
103 Minuten
Kinostart
14.04.2011
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung | Science-Fiction
Externe Links
IMDb | TMDB

Heimkino

Verleih DVD
Fox (16:9, 2.35:1, DD5.1 engl./dt.)
Verleih Blu-ray
Fox (16:9, 2.35:1, dts-HDMA engl., dts dt.)
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Diskussion
Ob denn nie jemand von den Kindern darüber nachgedacht habe, aus Hailsham davonzulaufen, die nicht gerade hohen Mauern zu überwinden und durch die waldreiche Landschaft zu einer der nahe gelegenen, kleinen englischen Ortschaften zu flüchten? Das würde man die Figuren in Mark Romaneks Film gerne fragen. „Flüchten, wovor?“, würde man dann wohl als Antwort bekommen. Oder die Befragten würden die unheimlichen Geschichten von jenen grausamen Unglücken erzählen, die angeblich den Kindern widerfahren sind, die es tatsächlich wagten, die Idylle von Hailsham zu verlassen. Viel Besitz oder Komfort haben die „Insassen“ des Internats nicht, die hier seit frühester Jugend lernen, dass das Wichtigste für sie im Leben sei, für andere da zu sein. Miss Emily, die gestrenge, auf ihre bestimmende Art aber immer auch gütige Leiterin Hailshams, achtet stets darauf, dass ihre Schützlinge gesund bleiben, dass sie bei guter Führung auch etwas aus dem Fundus zum Spielen bekommen, was in regelmäßigen Abständen von „denen da draußen“ gespendet wird. Schon als Kinder waren die selbstlose Kathy, die egozentrische Ruth und der introvertierte Choleriker Tommy auf besondere Art und Weise zu einander hingezogen. Auf ihre Art waren die drei Außenseiter Freunde und Feinde zugleich – und später Geliebte. Tommy mochte immer die zarte und freundschaftliche Wärme Kathys, aber auch den Sex mit Ruth. In den langen Jahren bis zu ihrer Volljährigkeit schlossen auch die ungleichen Mädchen eine Art Pakt. Freundschaft und Liebe bekommen freilich in Hailsham keine Zukunft: Die Waisen sollen mit unglaublichem Gleichmut ertragen, was die Gesellschaft mit ihnen vor hat, wenn sie mit 18 Jahren die Anstalt verlassen, um in nahe gelegenen Cottages zu warten – bis sie spenden „dürfen“. Zwei, drei Mal, vielleicht auch noch etwas öfters, sollen sie Knochen, Sehnen, Organe oder Gliedmaßen für andere geben. Sie sollen tapfer ihr Schicksal akzeptieren und ihren „Betreuern“ das Leben so leicht wie möglich machen, bis sie alles gegeben haben, was sie geben müssen. Aber Kathy, Ruth und Tommy träumen den Traum von Verliebten; den Traum davon, dass Liebenden Aufschub gewährt wird – wenn deren Liebe nur als stark genug befunden wird. Tommy muss sich entscheiden, ob es die geistige Liebe zu Kathy oder die körperliche zu Ruth ist, zu der er sich bekennen will und die eine verlängerte Option des Glücklichseins eröffnen könnte. Und er muss hoffen, dass diese Liebe vor Miss Emliy besteht. Wer Kazuo Ishiguros Roman „Was vom Tage übrig blieb“ oder die gleichnamige Verfilmung von James Ivrory (fd 30 687) kennt, dem fällt es schwer zu glauben, dass aus der Feder desselben Autors auch ein Stoff über das Sterben auf Bestellung stammt. Ishiguro wurde in Nagasaki geboren, ist aber im Süden Englands aufgewachsen; er schreibt in wunderschönem Englisch wunderschöne, von tiefer Melancholie beseelte Geschichten über Menschen, die sich auf ihrer Lebensreise mit der Erkenntnis konfrontiert sehen, am „Ende des Tages“ mehr Chancen verpasst als genutzt zu haben. Innerhalb dieser tiefen, durchaus auch heiter gezeichneten, von Glücksmomenten gebrochenen Melancholie „fühlt“ sich ein Science-Fiction-Stoff wie der von „Alles, was wir geben mussten“ zunächst befremdlich an. Die in den 1970er- bis 1980er-Jahren spielende Geschichte skizziert eine genügsam in sich ruhende, erfolgreich entwickelte konservative britische Gesellschaft, in der zwischen Tea-Time und Dinner gewissenhaft über die Abwicklung eines Menschenlebens entschieden wird, das zuvor in karg-heimeligen Internaten herangezogen wurde. Mark Romanek findet für dieses hintergründige Grauen gänzlich ungrauenhafte Bilder einer Idylle, der man die Hölle zunächst nicht ansieht. Das ins Mark Treffende in seinem Drama ist nicht das Porträt dieser degenerierten Gesellschaft an sich, es ist das Fehlen jeglichen Aufbegehrens. „Alles, was wir geben mussten“ ist ein Film über starke Menschen, aber ein Film ohne Helden. Das tut weh und provoziert, doch eine Katharsis wird der Zuschauer kaum finden, weil die Protagonisten in diesem Universum den heroischen Aufstand (noch) nicht gelernt haben. Von daher ist der Film ein Gegenentwurf zu Effektgewittern wie „Matrix“ (fd 33 720) oder „Die Insel“ (fd 37 176), in denen dem Zuschauer nicht nur eine dystopische Welt präsentiert wird, zugleich aber auch die Utopie, dass es Revolutionäre gibt, die gegen das Unrecht und die Ausbeutung zu Felde ziehen. Ishiguros und Romaneks Ansatz einer passiven, schicksalsergebenen Gesellschaft feiert dagegen nicht die Ausnahmegestalt eines Heros, er hält vielmehr einer schweigenden Mehrheit den Spiegel vor. In seiner getragenen, die lethargische Situation der Figuren suggestiv spiegelnden Inszenierweise ist „Alles, was wir geben mussten“ in einer auf Aktionismus gebürsteten Welt des Genrekinos eine anstrengende Wohltat. Die ruhige, elegische Kammermusik von Rachel Portman („Emma“, fd 32 463, „Chocolat“, fd 34 751) zwingt zur Demut in einem emotional aufgeladenen Sujet. Die Darsteller bekommen – wie der Zuschauer – kaum Gelegenheit, den aufgestauten Gefühlen ungezügelt Ausdruck zu verleihen. Nur Tommy, der introvertierte Choleriker (nach „The Social Network“, fd 40 089, einmal mehr brillant: Andrew Garfield), hat ein einziges – grandioses, trauriges – Mal die Chance dazu. Aber es ist nicht nur diese eine Szene, die diesen Film lange, lange präsent hält.
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