Vier Leben (2010)

Dokumentarfilm | Italien/Schweiz/Deutschland 2010 | 88 Minuten

Regie: Michelangelo Frammartino

In der Abgeschiedenheit der kalabrischen Berge verrichtet ein alter Ziegenhirte sein Tagwerk. Eine kleine Ziege wird geboren und wächst auf. Eine mächtige alte Tanne trotzt den Jahreszeiten und wird gefällt, um beim Ritus eines Dorffests verwendet zu werden. Köhler verwandeln Holz nach traditionellem Verfahren in Kohle. Aus vier Kapiteln, vier Existenzen, die sich innerhalb der kargen Natur entfalten, destilliert die Inszenierung einen stillen, enigmatisch-kontemplativen Film, der mit unprätentiösen Bildern die Lebensumstände in der süditalienischen Bergwelt erkundet und zum Nachdenken und Philosophieren über den Kreislauf des Lebens sowie das Miteinander von Mensch und Natur anregt. (Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
LE QUATTRO VOLTE
Produktionsland
Italien/Schweiz/Deutschland
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Invisibile/Ventura/Vivo/Essential Filmproduktion/Caravan Pass/Altamarea
Regie
Michelangelo Frammartino
Buch
Michelangelo Frammartino
Kamera
Andrea Locatelli
Musik
Paolo Benvenuti
Schnitt
Benni Atria · Maurizio Grillo
Länge
88 Minuten
Kinostart
30.06.2011
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm

Diskussion
„Vier Leben“ von Michelangelo Frammartino ist ein traumhaft schöner Film: bedächtig, dem Lentamento des Lebens verschrieben, enigmatisch wie die Filme von Andrej Tarkowski, bukolisch wie die Dokumentarfilme von Erich Langjahr, mystisch wie Robert Bressons „Zum Beispiel Balthasar“ (fd 15 254), meditativ wie „Von Menschen und Göttern“ (fd 40 206) von Xavier Beauvois. Keine Dialoge, keine Kommentare; nur Bilder, Geräusche, Töne, Klänge: Ziegengemecker, Wind, Knacken, Knistern, Kirchenglocken, Hundegebell, Schritte, dumpfe Schläge, Vogelgezwitscher, summendes Schweigen. Cinéma pur gewissermaßen, die Kamera als Erzählerin mittendrin. Beobachtend. Meist statisch, manchmal mit einem Schwenk. So konzentriert sie sich auf die Umgebung, das Geschehen. Ein alter Hirte und seine Ziegen: Tagsüber auf der Weide, in der Abenddämmerung auf dem Weg nach Hause. Eng zusammen Stall und Wohnung, am Rande eines mittelalterlich anmutenden Dorfs. Nachts sind die Ziegen im Stall. Der Hirte in der Wohnung braut sich aus Staub und Wasser einen Trank gegen den Husten. Am Morgen – ist es der nächste, der übernächste, der Tag danach? – geht er zur Kirche. Dort lässt er sich den Staub geben, den er als Medizin verwendet: Die Frau, die die kleine Kirche betreut, kehrt ihn vom Kirchenboden zusammen; der Hirte überlässt ihr als Bezahlung frische Milch von seinen Ziegen. Dann zieht er weiter auf die Weide. Der Hund bellt, die Ziegen grasen. Wolken ziehen. Irgendwann fällt ihm das Briefchen mit dem Kirchenstaub unbemerkt aus der Tasche. Am Abend kann er seine Medizin nicht zubereiten. Am nächsten Morgen ist der alte Mann tot. Nun zieht ein anderer mit den Geißen auf die Weide. Das ist nicht einerlei, doch dem Film egal. Denn es wird ein Zicklein geboren, kommt flutsch auf die Welt: Großartig unspektakulär ist das und doch der Anfang eines neuen Lebens, einer neuen Geschichte. Im waldigen Serres-Gebirge in Kalabrien hat Michelangelo Frammartino „Vier Leben“ gedreht. Der Filmtitel, erfährt man im Presseheft, verweist auf Pythagoras: Der Denker, um 570 v. Chr. auf Samos geboren, tauchte um 530 v. Chr. in Unteritalien auf und gründete im heutigen Crotone eine Schule. Überzeugt von der Seelenwanderung, begriff Pythagoras das Leben als ineinander übergehende Stufen von mineralischem, pflanzlichem, tierischem und menschlichem Sein. Abgesehen davon, dass der Film unweit des Ortes spielt, wo Pythagoras unterrichtete, greift er auch dessen Vorstellung der vier Stufen des Seins auf. Dem Kapitel über den alten Hirten folgt die Geschichte vom jungen Geißlein, dann rückt das in Alessandria del Carretto jährlich gefeierte Baumfallfest und mit ihm eine alte Tanne, die für diesen Festtag gefällt wird, in den Fokus. Schließlich wird zu der nach uralter Methode betriebenen Herstellung von Kohle übergeleitet. Damit schließt sich der Zyklus: Der Film kommt wieder bei den bullernden und rauchenden Kohlemeilern an, mit denen er begann. „Vier Leben“ ist ein außergewöhnliches Werk. Eines, das zu betrachten viel innere Ruhe braucht. Auf dessen Bilder, Geräusche und Tempo man sich einlassen muss, ein Film, der zum Sinnen und Meditieren einlädt. Und der den Zuschauer mit der tröstlichen Einsicht entlässt, dass das Leben, dieses Werden, Sein und Vergehen, wunderschön ist.
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