Tragikomödie | Finnland/Frankreich/Deutschland 2011 | 93 Minuten

Regie: Aki Kaurismäki

Ein alternder Schuhputzer in der Hafenstadt Le Havre nimmt sich eines afrikanischen Flüchtlingsjungen an. Diverse Freunde unterstützen ihn dabei, dem Kind die Weiterreise nach London zu ermöglichen, wo es seine Mutter finden will. Aki Kaurismäki erzählt in seinem für ihn typischen lakonischen Stil ein zutiefst humanistisches Drama, das wie ein Gangsterfilm anfängt, dann aber zunehmend märchenhaftere Züge gewinnt und sich zum mitreißenden Plädoyer für die Veränderbarkeit maroder Zustände verdichtet. (Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
LE HAVRE
Produktionsland
Finnland/Frankreich/Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Sputnik Oy/Pyramide International/Pandora Film Prod:/ARTE France Cinéma/ZDF-ARTE
Regie
Aki Kaurismäki
Buch
Aki Kaurismäki
Kamera
Timo Salminen
Schnitt
Timo Linnasalo
Darsteller
André Wilms (Marcel Marx) · Kati Outinen (Arletty) · Blondin Miguel (Idrissa) · Jean-Pierre Darroussin (Monet) · Elina Salo (Barbesitzerin)
Länge
93 Minuten
Kinostart
08.09.2011
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
Genre
Tragikomödie
Externe Links
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Diskussion
Ein Flüchtling auf Zwischenstation; ein von Tragik umwehtes Liebespaar; die Stadt Le Havre an Seine-Mündung und Ärmelkanal: Das sind Hauptfiguren und Spielort des Films von Aki Kaurismäki ebenso wie von Marcel Carnés düsterem Drama „Hafen im Nebel“ (fd 3971) aus dem Jahr 1938. Mit ausgelassen heiteren Geschichten scheint sich die Normandie schwer zu tun. Das trifft selbst auf Filme aus jüngerer Zeit zu. Steven Spielbergs „Der Soldat James Ryan“ (fd 33 341) zeigte tausendfaches Sterben in einer von den Bombenkratern des Zweiten Weltkriegs vernarbten Region, Alix Delaportes Regiedebüt „Angèle und Tony“ (fd 40 584) erzählte zwar eine Liebesgeschichte, doch dem rauen Schauplatz entsprechend, trägt die Romanze herbe Züge. Ein ganz besonderer Fall ist Aki Kaurismäkis „Le Havre“: Die Voraussetzungen sind trist, der Ausgang der Story grenzt an ein Wunder. Im Schlussbild blüht ein Kirschbaum. Wer mit Kaurismäkis Kosmos vertraut ist, kennt die Hauptfigur: Einst führte der (wieder mit leisen Tönen von André Wilms gespielte) Marcel Marx „Das Leben der Bohème“ (fd 29 437) in Paris, inzwischen hat der Ex-Dichter das Schreibzeug in eine Schuhputzerbox umgetauscht. Das Intro von „Le Havre“ lässt sogar vermuten, dem alternden Marcel könnte das Schuheputzen als Tarnung für weit schmutzigere Geschäfte dienen. Typisch für Kaurismäki ist die Lakonie der Anfangssequenz: Im Bahnhofsgebäude von Le Havre kümmert sich Marcel um einen Kunden, der einen Koffer umklammert hält. Gangstertypen warten das Ende der Dienstleistung ab, dann signalisieren Schüsse aus dem Off, dass der Weg des Kunden zu Ende ist. Danach verlässt Kaurismäki das Gangster-Genre und widmet sich voll und ganz dem Kampf des Protagonisten für Menschlichkeit. Ein harter Gegner ist der Tod, der Zuhause an die Tür klopft: Marcels Frau Arletty (Reverenz an den Star in Carnés „Kinder des Olymp“, fd 24 617) ist schwer krank, verschweigt Marcel aber, dass der Arzt ihr nur noch wenige Wochen gibt. Als Arletty ins Krankenhaus muss, hinterlässt sie ein Vakuum, das bald vom minderjährigen Flüchtling Idrissa gefüllt wird. Die Freundschaft zwischen Marcel und dem pfiffigen Jungen aus dem afrikanischen Libreville wird zum Herzstück der Handlung. Einmal mehr blendet Kaurismäki das Dokumentarische und das Poetische ineinander: Das Fernsehen zeigt Nachrichtenbilder von der Räumung des „Dschungel von Calais“ (2009), einer illegalen Flüchtlingsunterkunft, entstanden 2002, nachdem der einstige Innenminister Nicolas Sarkozy ein offizielles Durchgangslager geschlossen hatte. Einwanderungsminister Eric Besson erklärt im Fernsehen scheinheilig, man wolle vor allem ein Zeichen gegen „Schlepper und Menschenhandel“ setzen. Anders Kaurismäki: Er lenkt den Blick weg von den Verbrechen, hin zur Not der Illegalen. Ein Container, aus dem Kindergeschrei dringt, landet am Hafen. Unter den Insassen: Idrissa, der trotz Polizeiaufgebot und Maschinengewehren aus der Blechfalle flüchten kann. Er will nach London, wo seine Mutter lebt. Sein Zufallstreffen mit Marcel, als der am Hafen angelt, markiert den Übergang zur Sphäre des Wunderbaren und Theaterhaften. Kameramann Timo Salminen lässt Marcels Welt in blauen und roten Technicolor-Tönen leuchten. Es ist die Welt der so genannten kleinen Leute, darunter eine Bäckersfrau, ein Gemüsehändler, eine Kneipenwirtin und ein vietnamesischer Illegaler, die sich alle mit Marcel solidarisieren und ihn bei seinem Vorhaben unterstützen, Idrissa per Schiff nach London zu schleusen. Kaurismäki betont die Künstlichkeit der Szenerie, indem er seine Darsteller zu antinaturalistischem Spiel anhält. Seine humane Botschaft – in einem Dialog beruft sich Marcel auf die Bergpredigt – entwickelt eine Kraft, die ansteckend wirkt. Eigentlich seltsam, welches Maß an Spannung und Anteilnahme der Film erzeugt, obwohl Kaurismäki alles dafür tut, die Geschichte mit ironischer Distanz und retardierenden Momenten zu entschleunigen. Auch diesmal wird mit fadenscheiniger Motivation ein Band-Auftritt eingebaut. Hier geht es um ein Benefiz-Konzert, mit dessen Erlös die Schiffspassage bezahlt werden soll. Während Little Bob aka Roberto Piazza seine Rock-Ballade singt, erlaubt sich Kaurismäki nicht einen Zwischenschnitt, der die Dringlichkeit der Situation in Erinnerung brächte. Wer sich allerdings an den provokant gehäuften Wundern des Happy Ends stößt, sei auf Bertolt Brecht und den V-Effekt verwiesen. Indem Kaurismäki sämtliche Klischees und vermeintliche Selbstverständlichkeiten unserer Medienwirklichkeit in die Schranken weist, plädiert er eindringlich für eine Veränderbarkeit der Welt.
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