Über uns das All

Drama | Deutschland 2011 | 90 Minuten

Regie: Jan Schomburg

Eine junge, glücklich verheiratete Englischlehrerin steht vor den Scherben ihres Lebens, als ihr die Polizei vom Selbstmord ihres Mannes berichtet. Sie weigert sich, die Konsequenzen für ihr Leben anzuerkennen, und macht mit einem anderen Mann dort weiter, wo sie der Tote zurückgelassen hat. Ein kühnes, verwegenes Drama, das mit souveräner Konsequenz nichts erklärt, sondern durch ein gewitzt-raffiniertes Pingpong-Spiel mit präzisen, betont knappen Dialogzeilen, Detailbeobachtungen und Kameraeinstellungen die ungewöhnliche Auflösung einer Katastrophe skizziert. Das durchtriebene Konzept geht auf, vor allem weil die herausragende Hauptdarstellerin ihrer Figur eine elastische Vielgestaltigkeit verleiht. Ein grandioser, minimalistisch-konzentrierter Wurf mit großem Potenzial für Kontroversen. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Pandora Film Prod./WDR
Regie
Jan Schomburg
Buch
Jan Schomburg
Kamera
Marc Comes
Musik
Tobias Wagner · Steven Schwalbe
Schnitt
Bernd Euscher
Darsteller
Sandra Hüller (Martha Sabel) · Georg Friedrich (Alexander Runge) · Felix Knopp (Paul Sabel) · Kathrin Wehlisch (Trixi) · Valery Tscheplanowa (Anja)
Länge
90 Minuten
Kinostart
15.09.2011
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Diskussion

„Lieb’ ist nicht Liebe,/ Die Trennung oder Wechsel könnte mindern,/ Die nicht unwandelbar im Wandel bliebe“, reimte William Shakespeare in seinem berühmten Sonett Nr. 116, das in der Eröffnungssequenz von „Über uns das All“ markant intoniert wird. Man kann diese Sentenz unschwer auf die Englischlehrerin Martha und ihren Mann Paul beziehen, denn sie sind das, was man ein glückliches Ehepaar nennen muss. Da passen zwei sogar in ihren Spleens zusammen, in ihrer Lust, in andere Rollen zu schlüpfen, mit dem Zufall zu spielen, Fünf gerade sein zu lassen. Die Zukunft steht weit offen, der Möbelwagen für den Umzug nach Marseille ist bestellt. Vielleicht aber hätte man schon bei den holprigen Übersetzungsübungen der Schüler aufhorchen müssen, die aus der hymnischen Vision ein radebrechendes Stück Schwerstarbeit machen, voller Brüche und bar jeden Verständnisses. Denn nach einer Viertelstunde ist mit einem Schlag plötzlich alles anders: Paul hat sich das Leben genommen. Der wunderbare Mann an Marthas Seite entpuppt sich als reine Fiktion: als ein Gespinst aus Annahmen, Unterstellungen und Lügen. Das gemeinsame Leben, die Identität als Paar: ein windiges Konstrukt, das wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt.

Doch Martha verzweifelt nicht. Sie rebelliert, still und entschlossen. In dem Maße, wie sie das ganze Ausmaß ihrer Täuschung realisiert, negiert sie diese zugleich und ergreift die erstbeste Gelegenheit, um den Zustand vor dem Schock wieder herzustellen. Eine buchstäblich an den Haaren herbeigezogene Geste dient als Brücke, um mit einem anderen Mann, Alexander, dort weiterzumachen, wo Paul sie zurückgelassen hat. Dramaturgisch brisant wird das, weil der Film an dieser Stelle zugleich die Perspektive wechselt: Folgte man bis dahin ausschließlich Marthas Spuren, erlebt man ihr verstörendes Verhalten fortan strikt aus Alexanders Sicht, ohne dass sich die Erzählhaltung dieses kühnen Dramas ändern würde: Es gibt keine erklärenden Dialoge oder Szenen, sondern weiterhin „lediglich“ ein gewitzt-raffiniertes Pingpong-Spiel aus sehr knappen, sehr präzisen Textzeilen, Detailbeobachtungen und Kameraeinstellungen.

Mit dem Resultat, dass man der „Fortsetzung“ jenseits sich aufdrängender Begrifflichkeiten zu folgen bereit ist. Denn es wäre gleichermaßen falsch, von einer Realitätsleugnung bei Martha zu sprechen oder ihr Verhalten zu pathologisieren; auch die Vorstellung, dass sie Paul durch Alexander schlicht auswechselt, führt nicht sehr weit; in der finalen Klimax setzt der Film vielmehr noch eins drauf, indem Alexander seinerseits in Marthas „Sicht“ einsteigt und damit einer konstruktivistischen Lesart das letzte Wort zu geben scheint. Der blaue Himmel über Marseille aus der Schlusseinstellung hat jedenfalls mit einem Realitätsprinzip à la Freud so wenig zu tun wie die Musik Schostakowitschs mit der „The Unanswered Question“-Paraphrase nach Charles Ives, die im Soundtrack jeweils an pointierter Stelle zu hören sind.

Möglich wird dieses durchtriebene Konzept des Autors/Regisseurs Jan Schomburg allererst durch die außergewöhnliche mimische und darstellerische Wandelbarkeit seiner Hauptdarstellerin Sandra Hüller, die in nahezu jeder Einstellung anders aussieht, wirkt und agiert. Hüller leiht ihrer Figur eine elastische Vielgestaltigkeit, ein So- und Anderssein, das einen spielerischen Umgang mit Identitätspartikeln erlaubt, ohne sich in „anderen“ Zuständen zu verlieren. Man sieht hier einer Person gewissermaßen beim Wechsel jener unzähligen Rollen zu, die der Alltag abverlangt, und sei es der Kauf eines Sargs für den Ehemann, bei dem die nüchtern-sachliche Ebene hart an einen Abgrund grenzt (obwohl auch diese Szene signifikant gebrochen ist, weil auch der Bestatter für einen Moment aus seiner Rolle genötigt wird). Diese Frau ist einem seltsam vertraut und doch zugleich mehr als fremd, wenn sie scheinbar abrupt den Ton wechselt oder ansatzlos Sätze absondert, die unangemessener nicht sein könnte. Auf die Evidenz der Polizeibilder von ihrem toten Mann in seinem Auto folgt kein seelischer Zusammenbruch, sondern eine weitere der vielen Segmentierungen von „Martha“: Einerseits beginnt sie, „Paul“ zu rekonstruieren; sie durchwühlt seine Unterlagen, recherchiert an der Uni und bei seinem angeblichen Doktorvater, fandet nach Kommilitonen, die ihn gekannt haben; andererseits scheint die shakespearesche Losung „Lieb’ ist nicht Liebe ... Die nicht unwandelbar im Wandel bliebe“ aber unangetastet zu bleiben, weshalb Alexander nahtlos Pauls Stelle einnehmen kann.

Dabei ist es gerade nicht so, dass Martha den „Wechsel“ ignorieren würde („Du könntest ein Nino sein“). Sie macht aber kein Aufheben darum, sondern spult das Programm „Martha & Paul“ mit neuer Besetzung ab. Es ist eine Wiederholung, die die Elemente des Früheren aufgreift (und dabei ein so ausgebufftes inszenatorisches Feuerwerk abbrennt, dass man den Statuts eines Debütfilms kaum glauben mag), die aber seltsam erinnerungslos bleibt, weil bis auf Pauls Zimmer der Rest der Bühne für die Fortsetzung leergefegt wurde. Es braucht schon einen Deus ex machina („Da will dich ein Paul sprechen“), um die Vergangenheit ins filmische Jetzt zurückzuholen – auf die dann eine Entscheidung folgt, nämlich die von Alexander, in Marthas „Spiel“ aktiv einzusteigen.

Man kann und muss sich wohl der hohen Ambivalenz dieser befremdlichen Verhaltensweisen stellen, die durch den Verzicht auf jegliche filmische Überhöhung ungebrochen in die Lebenswelten der Zuschauer ragen. „Über uns das All“ verfügt deshalb über ein enormes Kontroversen-Potenzial, das den grandiosen, minimalistisch konzentrierten Wurf weit über die Beziehungsthematik hinaushebt. Denn eines ist zumindest klar: dass hier der „Trauerarbeit“ nicht allzu viel Bedeutung eingeräumt wird. Das Mantra der klassischen Psychoanalyse, Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten, hat anscheinend ausgedient; die Bewegung nach vorne hat ihre Bindung ans Davor gekappt und setzt im besten Fall auf Gegenwart. Ob das der „Realität“ wirklich angemessener ist als die klassischen Bewältigungsstrategien, ist indes keine theoretische Frage, sondern eine Frage der Bewährung.

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