Dokumentarfilm | Deutschland 2011 | 103 Minuten

Regie: Ulrike Ottinger

Auf den Spuren eines historischen Reiseberichts entführt die Dokumentaristin Ulrike Ottinger in den äußersten Nordwesten Japans, der oft bis in den Mai hinein meterhoch von Schnee bedeckt ist. Dabei folgt ihr Film den mythischen Spuren von Berggeistern, fügt eine märchenhafte Ebene ein, beobachtet den Alltag der Menschen, ihre Feste und religiösen Rituale. Kabuki, Poesie und die raue Wirklichkeit verbinden sich zum kontemplativen, semi-fiktionalen Porträt einer magischen Landschaft. Ein Film voller verwunschener, auf leise Art gewaltiger Bilder. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Ulrike Ottinger Filmprod./ma.ja.de. filmprod.
Regie
Ulrike Ottinger
Buch
Ulrike Ottinger
Kamera
Ulrike Ottinger
Musik
Yumiko Tanaka
Schnitt
Bettina Blickwede
Darsteller
Takamasa Fujima · Kiyotsugu Fujima
Länge
103 Minuten
Kinostart
15.09.2011
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Eine lang gedehnte Kamerafahrt durch eine Schneelandschaft. Die Schneedecke hat etwas Hypnotisches, sie homogenisiert die Landschaft, zieht sie zu einer dichten, undurchdringlichen Fläche zusammen. Der Kaufmann Bokushi Suzuki hat in diesem scheinbar einheitlichen Weiß dennoch eine erstaunliche Vielfalt und Differenz entdeckt. Mitte des 19. Jahrhunderts hielt er in seinem Reisebericht durch das japanische Echigo 22 Bezeichnungen für Schnee fest, darunter Blütenschnee, Reispuderschnee, Trommelschnee, Schaumschnee, Schneeknödel, erster Schnee oder Nr.1-Schnee. Suzukis Aufzeichnungen mit dem Titel „Schneeland Symphonie“ sind die Spur, auf der sich Ulrike Ottinger auf ihrer Reise durch eine „weiß geschminkte Landschaft“ bewegt. Nach ihren filmischen Exkursionen durch China, der Mongolei und zuletzt Korea („Die koreanische Hochzeitstruhe“, fd 39 493) begibt sich die Filmemacherin nun in die Sibirien zugewandte Gebirgsküste – eine Region, die oft bis in den Mai hinein unter einer meterhohen Schneedecke begraben liegt. „Unter Schnee“ ist jedoch kein rein ethnografischer Bericht über den Alltag in Echigo. Der Film verschränkt vielmehr Dokumentation und mythische Erzählung, Vergangenheit und Jetztzeit zu einem überzeitlichen, semi-fiktionalen Porträt, in dem vieles rätselhaft und in der Schwebe bleibt. Überhaupt scheint die allgegenwärtige Schneedecke alles Laute, Beschleunigte, aber auch allzu Eindeutige abzudämpfen. Der Film, von Eva Mattes ungekünstelter Stimme aus dem Off erzählt, hat etwas Entrücktes, Meditatives, und das auf eine sehr unprätentiöse und pathosfreie Art. Ulrike Ottinger durchkreuzt den „Landschaftsfilm“ mit Formen des östlichen Theaters, indem sie auf einer fiktiven Ebene die Geschichte der Studenten Mako und Takeo erzählt, die den Spuren Suzukis folgen und von zwei Kabuki-Darstellern verkörpert werden. Auf ihrer Reise erliegen sie einer schönen Füchsin, die sie vom Weg abbringt und in ein Paar aus der Edo-Zeit verwandelt, das durch die Vergangenheit reist und dabei immer wieder auf die Gegenwart trifft. Der Film nimmt sich Zeit, das Leben der Bewohner Echigos mit dem Schnee zu zeigen, ihre Feste und religiösen Rituale, etwa das Abwehrritual gegen Reis pickende Vögel. Die Reisbauern errichten dafür im Schnee eine Art Opferplatz. Reis, Sake und Fisch werden dargebracht, außerdem Zweige und selbst gebastelte Zielscheiben, die unter lauten Beschwörungsrufen mit Pfeil und Bogen beschossen werden. Schon die Kinder beteiligen sich an diesen rituellen Zeremonien. Mit ihren kleinen Schaufeln errichten sie den heiligen Berg Fuji-san aus Schnee, schleppen Opfergaben herbei und geraten darüber in einen kleinen Disput, ob der Berg nun mit Fisch, Soja oder Pflaumenessigsoße gewürzt werden soll. Beim Fest der Wegegötter wird eine Pyramide aus Reisstroh verbrannt, mit Neujahrgedichten und Wunschbriefen; außerdem gibt es das Ritual des Bräutigamwerfens. Mitunter bringt das Schneeland aber auch kuriose Erfindungen hervor, etwa das Federballspiel mit Schneeschaufeln zu Ehren der Götter. Ulrike Ottinger hält sich mit Erklärungen und Kommentaren zurück; sie lässt die Bilder wirken und wahrt zunächst ihre Rätselhaftigkeit, bevor der Kontext freigelegt wird. So sieht man einmal, wie Frauen breite farbige Stoffbahnen im Schnee ausbreiten, wobei man sogleich an ein religiöses Ritual denkt, so systematisch und geordnet erscheint dieser Prozess. Erst dann wird enthüllt, dass es sich um hauchdünnen Krepp handelt, den die Frauen im Winter bei Eiseskälte an ihren Webstühlen hergestellt haben. „Unter Schnee“ ist ein Film voller verwunschener Bilder, die auf eine leise Art gewaltig sind und sich festsetzen. Aber auch auf der Tonspur wirkt er lange nach, durch die Shamisen-Kompositionen von Yumiko Tanaka, vor allem jedoch ein – eher beiläufiges – Geräusch, das sich wie ein durchgängiges Motiv durch den Film zieht: das Knirschen der Schritte im Tiefschnee.
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