Sing! Inge, Sing! - Der zerbrochene Traum der Inge Brandenburg

Dokumentarfilm | Deutschland 2011 | 118 Minuten

Regie: Marc Boettcher

Dokumentarfilm über die Jazz-Sängerin Inge Brandenburg (1929-1999), der das Leben der Künstlerin nachzeichnet, die zunächst zu einer vielversprechenden Karriere ansetzte, dann aber daran scheiterte, dass sich ihrem Talent in der jungen Bundesrepublik kaum Raum zur Entfaltung bot. Eine detail- und materialreiche Dokumentation, die über die Biografie Brandenburgs hinaus ein vielsagendes Porträt der deutschen Nachkriegsgesellschaft zeichnet. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
MB-Film Marc Boettcher/NDR/ARTE/HR
Regie
Marc Boettcher
Buch
Marc Boettcher
Kamera
Oliver Staack · Manuel Piper
Musik
Senka Brankovic
Schnitt
Marian Piper
Länge
118 Minuten
Kinostart
27.10.2011
Fsk
ab 12 (DVD)
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Wolfgang Dauner, Emil und Albert Mangelsdorff, Klaus Doldinger, Joki Freund, Slide Hampton, Gunter Hampel, Michael Naura, Max Greger, Knut Kiesewetter, Paul Kuhn, Fritz Rau – sie alle (und viele mehr) kommen in dieser Dokumentation zu Wort und ins Bild. Sie ist Inge Brandenburg gewidmet, über die in einschlägigen Jazz-Lexika selten mehr als ein Absatz zu lesen steht. Ist Inge Brandenburg, die 1960 in Frankreich zur besten europäischen Jazz-Sängerin gekürt wurde, vergessen? Seinerzeit wurde sie mit Billie Holiday verglichen, erzählte sie mit ihrer Kunst doch davon, dass sie in ihrem Leben Dinge erlebt hatte, die die Gesellschaft nicht gerne zur Kenntnis nahm: Vertreibung, Vergewaltigung, Traurigkeit, Einsamkeit und Verzweiflung. 1958, beim Deutschen Jazzfestival in Frankfurt, schlug die Autodidaktin, die Teil der Frankfurter Jazz-Szene war, „wie ein Rakete“ ein. Im Ausland wird man auf ihr Talent aufmerksam: Eine Tournee in Schweden verleiht ihr großes Selbstbewusstsein. Es folgen Schallplattenaufnahmen, Fernsehauftritte, Konzerte, Arbeiten als Schauspielerin für Theater und Film – es ist erstaunlich, wie viel zeitgenössisches Material Marc Boettcher in den Archiven aufgestöbert hat. Dass die Karriere der Inge Brandenburg keine Erfolgsgeschichte, sondern sie 1971 ganz im Gegenteil zur Protagonistin der Fernsehdokumentation über „Armut in Deutschland“ wurde, mag mit ihrer schwierigen Persönlichkeit, ihrem selbstbewussten Auftreten, ihren Männergeschichten, psychischen und Alkohol-Problemen zu tun haben. Bedeutsamer aber scheint, dass die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft einer Künstlerin wie Inge Brandenburg keinen Ort anzubieten hatte, von dem aus sie ihre Kunst entfalten konnte. Während die existenzialistische Nachkriegsjugend in den Jazz-Kellern Anschluss an die Kultur der Gegenwart suchte, bot die konservative Musikindustrie für Sängerinnen nur das Feld des Schlagers als Arbeitsfeld. Mitunter etwas anspruchsvoller, meist aber peinigend trivial – zumal für eine Künstlerin wie Inge Brandenburg, die Blues singen wollte und sich nicht den Mund verbieten ließ. Das Panorama der Ungleichzeitigkeit in der Nachkriegsgesellschaft, das die Dokumentation entwirft, beeindruckt. Brandenburg, wie die Brüder Mangelsdorff in den späten 1920er-Jahren geboren, blieb nicht viel Zeit für ihre Karriere mit einer Musik, die in der Öffentlichkeit als „Negermusik“ gehandelt wurde. Es ist sehr aufschlussreich, mit welchen Chiffren und Topoi „Jazz“ in Film und Fernsehen inszeniert wurde, und wie letztlich dann doch nur die Welt des Schlagers blieb, weil man vom Jazz nicht leben konnte. Ebenso aufschlussreich ist die Verspätung der deutschen Jazz-Szene, die den Soundtrack der Befreiung vom Faschismus mit Swing, Standards und etwas BeBop auslebte, während in den USA Ornette Coleman, John Coltrane, Miles Davis oder Jimmy Giuffre bereits mit dem modalen Jazz experimentierten – und andererseits die Beatles Anfang der 1960er-Jahre die Jugendkultur auf „Beat“ umstellten. Eine deutsche Billie Holiday geriet da schnell ins Hintertreffen. Brandenburg wurde von den großen Plattenfirmen fallen gelassen, beschritt juristische Wege gegen die Musikindustrie, was sie wiederum zur „persona non grata“ machte. Mitte der 1960er-Jahre hielt sie sich mit Theaterarbeit (unter anderem für George Tabori) über Wasser, sang Gospels und Spirituals mit deutschen Texten in der Bewegung „Jazz in der Kirche“. Es war vielleicht ihr persönlicher Aufstand in vom Protest der Jugend geprägten Zeiten. Zunehmend frustrierter von der Erfahrung, ihr künstlerisches Potenzial nicht angemessen realisiert haben zu können, verbitterte Brandenburg unter den Bedingungen einer prekären Existenz. (Ihren männlichen Weggefährten scheint dies Schicksal weitgehend erspart geblieben zu sein.) Inge Brandenburg wurde zunehmend unbequem und sozial auffällig. Erst 1992 sorgte eine Kompilation alten Materials für ein Comeback. 1995 konzertierte sie im „Bayerischen Hof“ in München und sagte sich selbst an, enthusiastisch: als tausendmal totgesagt und nicht tot zu kriegen. Ihr Traum von einem Jazz-Album ging allerdings erst nach ihrem Tod in Erfüllung. 1999 starb sie an den Spätfolgen ihrer Alkoholsucht und wurde in einem Armengrab beigesetzt. Es ist so erstaunlich wie bezeichnend: bei näherer Betrachtung der Geschichte der westdeutschen Pop-Musik der 1950er- bis 1970er-Jahre (Alexandra, Renate Kern, Roy Black) entdeckt man wenig mehr als ein Bild des Schreckens. So auch in dieser sehenswerten Dokumentation.
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