Drama | Russland 2011 | 134 Minuten

Regie: Alexander Sokurow

Alexander Sokurow verwendet Goethes gleichnamiges Theaterstück für eine bildermächtige, sinfonisch strukturierte Reise ins Labyrinth des Verderbens, in der es um die moralische Verkommenheit des Menschen, die Stafette des Bösen und die Einsamkeit der von allen guten Geistern verlassenen Herrscherfiguren geht. Dafür löst er sich konsequent von der Theatervorlage: Der Pathologe Faust ist bei ihm weniger Wahrheitssucher und Seelenerforscher als ein von seiner wahnwitzigen Idee besessener Flaneur. Der atemlose, nur von wenigen Ruhemomenten unterbrochene Film spielt in einer deutschen Kleinstadt des Biedermeier, die zum Ausgangspunkt ewiger Einsamkeit und Verdammnis gerinnt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
FAUST
Produktionsland
Russland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Proline Film
Regie
Alexander Sokurow
Buch
Alexander Sokurow · Marina Korenewa
Kamera
Bruno Delbonnel
Musik
Andrej Sigle
Schnitt
Jörg Hauschild
Darsteller
Johannes Zeiler (Faust) · Anton Adassinski (Geldverleiher) · Isolda Dychauk (Margarete) · Georg Friedrich (Wagner) · Hanna Schygulla (Frau des Geldverleihers)
Länge
134 Minuten
Kinostart
19.01.2012
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
MFA/Ascot Elite (FF, DD5.1 dt.)
Verleih Blu-ray
MFA/Ascot Elite (FF, dts-HD dt.)
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Diskussion
Doktor Johann Faust, die berühmteste aller deutschen Dramenfiguren, ist als Universalgelehrter, Wahrheitssucher und Weltentdecker in die Geschichte der Kunst und Philosophie eingegangen. Sein höheres Streben, das stets nur dazu diente, zum Kern allen Wissens, zu den Urgründen allen Seins vorzudringen, galt über die Zeiten hinweg als Beispiel für die Größe des menschlichen Geistes, die Unendlichkeit seiner Schöpferkraft, die mitunter eines Pakts mit dem Teufel bedarf, um zu eigener Hochform zu gelangen. Dass sich der russische Regisseur Alexander Sokurow nicht mit dieser traditionellen Lesart des Stücks und der ihr zugrunde liegenden Legende begnügen würde, lag auf der Hand: Sokurow ist ein Zerstörer jeder Konvention, der aus den Trümmern des Überlieferten sein ganz eigenes, artifizielles Weltenwerk neu zusammensetzt. Seinen „Faust“ versteht er als Abschlussfilm einer Tetralogie, in der es ihm keineswegs um das sattsam bekannte Heroische, sondern – im Gegenteil! – um die moralische Verkommenheit des Menschen geht, die Stafette des Bösen, die Einsamkeit der von allen guten Geistern verlassenen Herrscherfiguren. Fausts filmische Vorgänger hießen Hitler („Moloch“, fd 34 089), Lenin („Taurus“) und Hirohito, der japanische Kaiser („Die Sonne“). Jetzt hat sich der Kreis geschlossen. Sokurow siedelt seinen Film im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts an, also exakt in der Entstehungszeit von Goethes Drama. In den Anfangsszenen schwebt die Kamera durch die Wolken und eröffnet den Blick auf die engen, schmutzigen Gassen einer wie aus dem Fels gehauenen grauen Stadt. Es ist die Zeit des Biedermeier. In den optischen Motiven, die Sokurow erfindet, treffen sich Carl Spitzweg und E.T.A. Hoffmann, aber auch der ganze Mief und Muff der deutschen Misere. Sokurow löst sich konsequent von Goethes Theatervorlage: Der Pathologe Faust ist bei ihm weniger der wissbegierige Ergründer menschlicher Seelenregungen, sondern ein von seiner zunehmend wahnwitzigen Mission besessener Flaneur: Am Ende der Odyssee, wenn er Mephisto, den Wucherer mit dem kleinen Stummelschwänzchen, mit Felssteinen zu Tode gebracht hat, steuert er die Höllenschlünde und schneebedeckten Bergketten eines fernen Universums an und schwadroniert vom Glück, das er der Menschheit zu bringen gedenke. Zuvor hatte ihn der Wucherer in dumpfe Gemächer, stickige Kneipen und weiß ausgeleuchtete Kirchen bis hinein in geheime Katakomben der Romantik begleitet: Der Film, meist in graugrünen Tönen gehalten und teils zu monströsen, fratzenhaften Zerrbildern wie aus einem Spiegelkabinett geronnen, ist eine atemlose, nur von wenigen Ruhemomenten unterbrochene Hatz über eine schaurig bewegte Spielwiese der Larven und Lemuren. Auf seiner bildermächtigen, sinfonisch strukturierten, fast durchweg auch musikalisch grundierten Reise ins Labyrinth des Verderbens lässt sich Sokurow keine Zeit für längere Monologe oder Dialoge. Er zerstückelt Goethes Vorlage, birgt aus den Ruinen des Textes nur einzelne Sätze, die er oft anderen Figuren in den Mund legt als der Dichter. „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein“, sagt der Wucherer und stürzt sich ins pralle Leben eines Waschhauses, in dem auch Gretchen gerade zu Gange ist. Mit dem leicht verfremdeten Satz „Verweile doch, das ist nicht schön“ bettelt er Faust an, nicht seinen ganzen Körper unter Steinen zu begraben. Zu diesem Zeitpunkt ist es schon zu spät: Faust, der Wahnsinnige, stößt inmitten einer Geysir-Landschaft blasphemische Sätze aus wie: „Gott weiß das nicht – aber ich!“ Und geht trotz der Prophezeiung des Wucherers, ihn erwarte ewige Einsamkeit und keine Rettung, seinen Weg in die Verdammnis fort. Wie Béla Tarr mit „Das Turiner Pferd“ würde sich vermutlich auch Sokurow weigern, das von ihm entworfene Welt- und Menschenbild als pessimistisch zu bezeichnen. Vielleicht ließe sich der Film eher mit dem Begriff einer um schonungslose Erkenntlichkeit bemühten, verstörend surrealistischen Gegenwartsparabel fassen. Fausts Wahnsinn am Ende seiner Reise ist nur eine Variante anderen Wahnsinns, der im Film Gestalt erhält: Wenn das pausbäckige Gretchen von einem seltsamen inneren Beben ergriffen wird, ihren Mund spitzt und die Wangen flattern lässt, wirkt auch sie für einen Moment wie vom Bösen umschlungen. Ganz und gar von ihm ergriffen ist aber der wirr gewordene Famulus Wagner, der in einer der schockierendsten Szenen des Films seinen Homunculus präsentiert, eine schleimige Masse im Reagenzzylinder, die ein künstlicher Mensch sein soll, und, vom schützenden Glas befreit, nur noch verzweifelt nach Luft ringt: ein erbarmungswürdiges Etwas, dem alsbaldigen Tode geweiht. Hier ist das Natürliche vollkommen pervertiert, die Schöpfung auf eine Farce reduziert: Sokurows „Faust“ ist, neben allem anderen, auch eine bittere Horror- und Science-Fiction-Parabel auf die Verwerfungen unserer Zeit.
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