Die große Passion

Dokumentarfilm | Deutschland 2011 | 150 Minuten

Regie: Jörg Adolph

Dokumentarfilm über Christian Stückl und seine dritte Inszenierung der Passionsspiele von Oberammergau, die 2010 über eine halbe Million Menschen ins Voralpenland lockten. In bester "Direct Cinema"-Manier begleitet der chronologisch strukturierte Film das Geschehen und ordnet sein ausuferndes Material so geschickt, dass weder die epische Dimension des Unterfangens noch die vielen inhaltlichen Ebenen erschlagen werden. Ein sinnlich-aufmerksamer, kluger, nuancenreicher Film, der von der charismatischen Figur Stückls getragen wird, aber auch filmisch souverän zu punkten weiß. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
if... Prod./BR
Regie
Jörg Adolph
Buch
Jörg Adolph
Kamera
Daniel Schönauer
Musik
Rochus Dedler · Markus Zwink
Schnitt
Anja Pohl
Länge
150 Minuten
Kinostart
17.11.2011
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Heimkino

Verleih DVD
DocCollection (16:9, 1.78:1, DD5.1 dt.)
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Diskussion
Seit Mel Gibsons „Passion of Christ“ (fd 36 417) sind die letzten Tage Jesu fürs Kino „verbrannt“: Wer wollte sich nach diesem obszönen Overkill an Blut und platzender Haut auch noch ernsthaft auf die filmische Deutung einer Geschichte einlassen, in der eine solche Hinrichtung zum universalen Wendepunkt erklärt wird? Unwillkürlich zuckt man deshalb zurück, wenn man das Plakat zu Jörg Adolphs „Making of“ der Oberammergauer Passionsspiele 2010 sieht, in denen ein übel geschundener Christus frontal am Kreuz hängt. Das Poster gleicht einem mittelalterlichen Tafelbild, wie man es als Kreuzweg-Darstellung in alten Kirchen findet. Erst der zweite Blick – oder die Kenntnis dieser außergewöhnlichen dokumentarischen Studie – lässt anderes aufscheinen: Dann sticht plötzlich die Silhouette des Regisseurs Christian Stückl ins Auge, der sich mit dem verschmitzten Jesus-Darsteller am Kreuz offensichtlich unterhält. Die brennende Zigarette in Stückls Hand und die retouchierten Rauchwolken deuten zudem auf die eigenwillige Signatur des „Spielleiters“, über dessen Figur „Die große Passion“ erzählt wird. Filmtitel wie Plakat entpuppen sich als mehrdeutig, da neben dem Stück auch Stückl gemeint sein kann, Oberammergau als Ganzes oder seine spielwütige Bevölkerung. Seit bald 400 Jahren wird in dem oberbayerischen Dorf die Leidensgeschichte Jesu auf der Bühne nachinszeniert. 1632 versprach man, alle zehn Jahre die „Passionstragödie“ aufzuführen, wenn die Pest das Dorf nicht weiter dezimiere. Gegen alle Widrigkeiten der Zeitläufte wurde dieses Gelübde bis in die Gegenwart erneuert, wobei sich die religiösen Motive bald mit profanen Gründen mischten. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts spielt zudem der Tourismus eine tragende Rolle, der viel Geld in die Region spült. Bei der Dorfversammlung im Frühjahr 2008 skizziert denn auch ein sorgenvoller Kämmerer die Finanzen der Gemeinde, die sich von der 41. „Spielzeit“ eine Sanierung ihres hoch verschuldeten Haushalts erhofft; Stückls energische Replik, dass sich nicht alles ums Monetäre drehen dürfe, sondern die Geschichte und ihre Botschaft im Mittelpunkt stehen müssten, markiert auch im Film einen Gegenpol. Die Auseinandersetzungen mit dem Gemeinderat dienen der Inszenierung als burlesker Pfeiler. Zu den vielen Eigenarten der Passion „made in Oberammergau“ zählt nämlich nicht nur, dass jeder der etwa 2.000 Mitwirkenden im Ort geboren oder mindestens 20 Jahre dort wohnhaft sein muss; die Kommune agiert vielmehr bis in Besetzungsfragen hinein auch inhaltlich mit. So gerät der impulsive Regisseur in Bedrängnis, als ihm während der aufreibenden Proben ein unflätiger Kommentar über den Kämmerer entfährt; ein andermal gibt sein Zigarettenkonsum Anlass zu parteipolitischem Ränkespiel. In solchen Momenten ist die Kamera in bester „Direct Cinema“-Manier mittendrin. Adolph und sein Team brachten es in der zweieinhalbjährigen Produktionszeit auf 200 Drehtage und 300 Stunden Filmmaterial, das auf 144 Minuten komprimiert wurde; die Dramaturgie strukturiert dabei die Chronologie der Ereignisse so geschickt, dass die epische Dimension des Unterfangens weder die vielen inhaltlichen Ebenen noch seine unterhaltenden Aspekte erschlägt. „Die große Passion“ ist ein sinnlich-aufmerksamer und nuancenreicher Film, auch wenn er unbestreitbar von seiner Hauptfigur zusammengehalten wird, Christian Stückl, dessen glühender Enthusiasmus durch Habitus und Dialekt angenehm geerdet bleibt. Stückl (geb. 1961) scheint für diese Aufgabe geboren zu sein (er leitet die Passionsspiele bereits seit 1990). Detailversessen feilt er mit dem Dramaturgen Otto Huber am Textbuch, damit das Spektakel kein blasses Historienspiel bleibt, führt mit Engelsgeduld die Akteure zur richtigen Intonation, wirft sich unters Kreuz, um zu demonstrieren, wie Lebendigkeit und Expression zusammen kommen müssen. Auch die markanteste Stelle des Films wird von Stückls Stimme dominiert: „Wir müssen die Auferstehung ganz neu denken“, hört man ihn sagen. Darauf wird es still; man sieht ihn und Huber beim Nachdenken und Rauchen. Das ist mehr als ein dramaturgischer Kniff, um die Spannung zu steigern, denn für einen Moment werden die Sphären durchlässig: Während die Theaterleute nach einer neuen Idee suchen, die Auferstehung Jesu zu inszenieren, klingt der Satz wie eine grundsätzliche Aufforderung. Kadrage und Schnitt verstärken die gezielt gesetzte Irritation, in der das Verhältnis von Gegenstand, Darstellung und Rezeption fraglich wird und der Betrachter des Films eine ähnliche Bewegung mit vollziehen soll, um die es Stückl mit seiner „Passion“ geht: die Aufhebung der Grenze zwischen Darstellung und Dargestelltem. Auch in der filmischen „Auslösung“ beweist Adolph Souveränität: Man sieht die Auferstehung am Ende über einen Fernsehmonitor grob vergrößert als schemenhafte Wiedergabe des Bühnengeschehens, was Stückls Anstrengungen filmisch „übersetzt“, jeden theatralischen Naturalismus auszuschließen. Das sind subtile Feinheiten eines klug und packend erzählten Films, der den barocken Stoff und seine gemeinschaftliche Anverwandlung durch ein ganzes Dorf in allen markanten Stationen vergegenwärtigt.
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