Dokumentarfilm | Schweiz 2011 | 90 (24 B./sec.)/87 (25 B./sec.) Minuten

Regie: Alice Schmid

Über ein Jahr lang begleitet die Filmemacherin Alice Schmid Schweizer Bergbauernkinder aus dem Napfgebiet westlich von Luzern im Alltag, dokumentiert ihren beschwerlichen Schulweg, das Leben auf den abgeschiedenen Höfen, unbeschwerte Kinderspiele, aber auch die Aufgaben, die die Kinder übernehmen müssen. Daraus entstand ein bildgewaltiger Dokumentarfilm über das Leben in einer archaisch anmutenden Isolation, die von Mythen und Legenden beseelt ist, der sich zum Jahreszyklus einer zerklüfteten Berglandschaft verdichtet. - Sehenswert ab 10.
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Filmdaten

Originaltitel
DIE KINDER VOM NAPF
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Ciné A.S.
Regie
Alice Schmid
Buch
Alice Schmid
Kamera
Alice Schmid
Musik
Daniel Almada
Schnitt
Caterina Mona
Länge
90 (24 B.
sec.)
87 (25 B.
sec.) Minuten
Kinostart
25.10.2012
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 10.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Es ist noch tiefschwarze Nacht, als sich die Kinder auf ihren langen, beschwerlichen Schulweg durch die frühmorgendliche Kälte machen: Aus der Dunkelheit tauchen in der Ferne zunächst nur die Lichter ihrer Taschenlampen auf, bevor man leise das Knirschen des Schnees vernimmt, ein Keuchen angesichts der Anstrengung des Weges hört; dann geht es per Seilbahn hinab Richtung Tal, von halber Höhe aus weiter mit einem kleinen Schulbus, der endlich im kleinen Ort Romoos ankommt. Nach zehn Kilometern Schulweg beginnt für die Bergbauernkinder vom Napf der Alltag des gemeinsamen Lernens. Wie versteckt inmitten der Schweiz, in einem abgelegenen Winkel an der Grenze zwischen den Kantonen Bern und Luzern, scheinen die Kinder in einer archaisch anmutenden Isolation aufzuwachsen, in einer Welt, die noch mit Ruhe und Bedacht auf die alltäglichen Arbeiten und Pflichten reagiert, auf die „Stimme“ der Natur, den Wechsel der Jahreszeiten, auf den Glauben wie auf die gelebten Traditionen, gespeist von Mythen und Legenden, die auch die jüngste Generation verinnerlicht hat. Wie überhaupt das tägliche Leben die eigentliche Schule der Bergbauernkinder ist, das stets sinnstiftend in den vormittäglichen Unterricht einfließt, in die gemeinsamen Gespräche und didaktischen Aktionen, denen die Kinder aufmerksam und entspannt, fern von Zwängen, Konkurrenzdenken und Leistungsdruck folgen. Wobei sie sich gelegentlich nur eines wünschen: dass man Romoos etwas berühmter machen würde, wie Hollywood. Am Nachmittag geht es dann zurück auf die elterlichen Bauernhöfe, die sich wie einsame Nester um den Berg Napf angesiedelt haben, wo jedes Kind sein „Ämtli“ hat und wie selbstverständlich teilnimmt an den Arbeiten. Durchaus stolz darauf, führen die von den Kindern erzählten Alltagsgeschichten von Hof zu Hof, und quasi durch ihre Augen erlebt man die Schönheiten und Mühen der Jahreszeiten, erlebt die Sorge und Fürsorge für Mensch und Tier, den Alltag des Erntens und Schlachtens, erfährt die Feierlichkeit von Festen und Traditionen, aber auch, was es heißt, wenn der Wolf umherschleicht, ein Habicht die Hühner holt oder die Witterung umschlägt und heftige Gewitter und Wolkenbrüche niederprasseln. Ein Jahr lang begleitete Alice Schmid die Kinder mit der Kamera und verdichtete zahlreiche spannende, amüsante und erkenntnisreiche Impressionen zu einem bildgewaltigen, temperament- und stimmungsvollen Jahreszyklus. Einerseits handelt ihr Dokumentarfilm im gewissen Sinn – stets nostalgiefrei und fern von sentimentaler Verklärung – von einem paradiesischen Urzustand: Wenn sie 365 Tage lang das Leben von Bergbauernkindern einfängt und zeigt, wie es ihnen manche Mühen aufbürdet, dann vermittelt sie stets auch, wie dieses Dasein ihnen ein freies, selbstbestimmtes und unbeschwertes Leben voller Harmonie, Respekt und Toleranz ermöglicht. Staunend werden bereits sehr junge Zuschauer diese fremde, für viele gewiss recht exotische Welt registrieren und verstehen, in der einfachste Spiele, folkloristische Musik und gemeinsamer Gesang noch „reine“ und ehrliche Ausdrucksformen sind und der Gleichklang von Mensch und Natur nicht über „Bio“-Siegel beschworen, sondern schlicht und einfach gelebt wird – und durchaus als so etwas wie Glück empfunden wird. Solche Sehnsucht nach einer einfachen Welt ohne Lügen und Verstellungen, nach einer durchschaubaren Ordnung und nachvollziehbaren Verhältnissen mag durchaus einen Nerv der Zeit treffen; andererseits verschweigt der Film ja nicht die Berührungspunkte mit der „modernen“ Außenwelt: Wenn er die Welt regieren könne, sinniert ein Junge einmal, würde er es immer schneien lassen, ein Red Bull trinken und alles Gott überlassen. Die Kinder tragen zudem Trachtenkleidung ebenso selbstverständlich wie ein Spider-Man--T-Shirt, ohne dass dies ein Widerspruch wäre, und ein Mädchen als Kosovo-Flüchtling ist gänzlich „normal“ in die Kinder-Gemeinschaft integriert. Vielleicht ist vieles ja tatsächlich einfacher als man denkt, und auch die Probleme durch achtlos weg geworfenen Müll sind gänzlich undramatisch lösbar: „Bevor wir heuen, schauen wir, ob keine Bierdeckel im Gras liegen. Sonst müssen wir wieder eine Kuh metzgen.“
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