Michael (2011)

Drama | Österreich 2011 | 96 Minuten

Regie: Markus Schleinzer

Ein unscheinbarer Versicherungsangestellter hält in seinem Keller, von der Außenwelt unbemerkt, einen zehnjährigen Jungen als Sexsklaven gefangen. Durchgängig aus der Täterperspektive gefilmt, beschreibt das milieurealistisch inszenierte Drama in provozierender Beiläufigkeit die Banalität des Bösen, deren abgründiger Horror sich aus der protokollarischen Beobachtung alltäglicher Verrichtung speist. Ein in seiner kalten Distanziertheit hoffnungslos misanthropischer Blick in psychische Deformationen, der ohne das Angebot von Mitgefühl oder Erlösung auskommt und gerade deshalb ins Mark trifft. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
MICHAEL
Produktionsland
Österreich
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Nikolaus Geyrhalter Filmprod.
Regie
Markus Schleinzer
Buch
Markus Schleinzer
Kamera
Gerald Kerkletz
Schnitt
Wolfgang Widerhofer
Darsteller
Michael Fuith (Michael) · David Rauchenberger (Wolfgang) · Christine Kain (Mutter) · Ursula Strauss (Schwester) · Viktor Tremmel (Schwager)
Länge
96 Minuten
Kinostart
26.01.2012
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Heimkino

Die Edition besticht durch ein 26-seitiges Booklet zum Film sowie der Dokumentation "Eine Art von Normalität" - Markus Schleinzer über den Film (45 Min.).

Verleih DVD
EuroVideo (16:9, 1.66:1, DD5.1 dt.)
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Diskussion
Es vergeht keine Szene in diesem der Täterperspektive folgenden Missbrauchsdrama, ohne dass man an den Fall Natascha Kampusch denken muss. Das Entsetzen über das jahrelang in der Nachbarschaft unbemerkte Martyrium scheint sich tief in der ohnehin zum Makabren neigenden österreichischen Seele eingegraben zu haben. Eine filmische Aufarbeitung des authentischen Falls konnte da nicht ausbleiben. Dass ihre erste fiktive Version aus dem milieurealistischen Umfeld von Haneke & Co. kommt und nicht etwa in der Gestalt eines reißerischen Thrillers, wie er wohl gerade hierzulande nach der Vorlage des Entführungsopfers entsteht, ist nur zu begrüßen. Die Kehrseite ist ein ambivalenter Ansatz, der die Wirkung des Films auf dem Abscheu aufbaut, die Misshandlungen in der Position der voyeuristischen Komplizenschaft detailliert mitzuerleben. Wenn die unaufgeregte Kamera dem „fürsorglichen Monster“ vom Einkaufen an den Schauplatz seines Wirkens folgt, geschieht dies in einer seltsam entleerten Beiläufigkeit, die im Grundton bis zum Schluss beibehalten wird. Von außen deuten lediglich die abends herunter rollenden Jalousien auf ein Leben in dem Vorstadthaus hin. Bewohnt wird es von dem Versicherungsangestellten Michael, Mitte 30, der stets auf eine korrekte Erscheinung bedacht ist, strebsam im Beruf und ein Ausbund an Unscheinbarkeit. Dass ein zwanghafter Charakter wie er pädophil veranlagt sein könnte, überrascht nicht weiter. Trotzdem gerät die Atmung ins Stocken, als der Single den Tisch für zwei deckt, die verbarrikadierte Tür zu einem Kellerverlies öffnet und aus der Dunkelheit sein Sexsklave zum Essen erscheint. Ein Zehnjähriger, der in dem mit Klo und Waschbecken ausgestatteten Verschlag ein zombiehaftes Dasein fern des Tageslichts fristet, stets zur Verfügung stehend und im Geheimen unentwegt darauf lauernd, seinem Peiniger zu entkommen. Der Österreicher Markus Schleinzer, langjähriger Casting-Direktor und auf Nebenrollen disponierter Schauspieler (u.a. „Der Räuber“, fd 39 764), wurde für sein provozierendes Spielfilmdebüt mit einer Einladung in den Wettbewerb von Cannes 2011 belohnt. Er nähert sich dem Treiben seines unerbittlich sezierten Helden mit einer Temperiertheit, die nicht ohne Folgen für das Wohlbefinden im Kinosessel bleibt. Dabei sind Horror und Schockeffekte in den Kopf des Betrachters verbannt. Explizites ist Mangelware. Nicht die Übergriffe selbst sind zu sehen, sondern die peinliche Beachtung von Hygiene hinterher. Nur die wortkargen Dialoge verfügen gelegentlich über die Schärfe eines psychologischen Duells, das die Beklemmung auf den Siedepunkt zusteuern lässt, zumal das Verhältnis nicht nur von Furcht und Gehorsam, sondern durchaus auch von Zärtlichkeit geprägt ist, die aber abrupt in Sadismus umschwenken kann, wenn die Rede auf die grausamen Eltern kommt, die auf die nie abgeschickten Briefe des Jungen natürlich mit Schweigen reagieren. In den unbeweglichen Einstellungen und den ausgebleichten Farben triumphiert die Banalität des Bösen, die sich in einer minimalistisch reduzierten, ohne Musik auskommenden Inszenierung äußert und seinen Schrecken aus der protokollarischen Beobachtung alltäglicher Verrichtungen bezieht. Ein Geschenk an den Hauptdarsteller Michael Fuith, der dem Kinderschänder jede diabolische Exzentrizität verweigert und mit wohl dosierten mimischen Abweichungen einen Biedermann par excellence erschafft. Für den Außenseiter Michael ist sein perverses Arrangement kein Hindernis, um sich in väterlichen Gesten zu gefallen, gemeinsame Ausflüge in den Zoo zu unternehmen oder unterm Tannenbaum Weihnachten zu feiern. Das gekidnappte Kind, das es altersgerecht zu füttern und im Haushalt einzuplanen gilt, gibt zeitgleich den pflegeleichten Partnerersatz und Blitzableiter für zwischenmenschliche Frustrationen ab. Das Grauen könnte nicht irdischer daher kommen. Die klaustrophobische Welt, die sich dieser nach Macht lüsterner Niemand geschaffen hat, funktioniert schmerzhaft reibungslos, bis eine Arbeitskollegin auftaucht und der vorgeheuchelten Idylle einen ersten Kratzer verpasst. Schleinzer hat die formalen Lektionen seiner Vorbilder kondensiert auf eine Thematik angewandt, die durch die massenhaft vertriebenen Kinderpornos im Internet und sich akut häufenden Entführungsfällen zu einem Dauerproblem mutiert ist. Analytisch fügt er den bekannten, zwischen Krankheit und Normalität changierenden Täterprofilen keine neuen Aspekte hinzu, traut sich aber, den Kern der inneren Blessuren seines Protagonisten in einem minutiösen Psychogramm zu enthüllen und den Bogen zur Mehrheitsgesellschaft zu schlagen: die Angst vor Einsamkeit und Ablehnung, die harmlose Zeitgenossen in Stalker oder andere Gefühlsterroristen verwandelt. Ein in seiner kalten Distanziertheit hoffnungslos misanthropischer Blick in psychische Deformationen, der ohne das Angebot von Mitgefühl und Erlösung auskommt und gerade deswegen bis ins Mark trifft.
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