Die Ausbildung

Drama | Deutschland 2010 | 89 Minuten

Regie: Dirk Lütter

Ausgebildet an einem Büroarbeitsplatz in einer Dienstleistungsfirma, wartet ein junger Mann auf einen Anstellungsvertrag. Ohne seine inneren Regungen sichtbar zu machen, beobachtet er, was um ihn herum vorgeht: anonyme Leitungsentscheidungen, der ständig zunehmende Arbeitsdruck, die Überlastung einzelner Kollegen, die schleichende Ausschaltung des Betriebsrats. Der Film macht in lakonischen Bildern die Eiseskälte der "schönen neuen Arbeitswelt" und das zunehmende Ausgeliefertsein des Individuums an moderne Technik transparent. Moralische Fragen, die in einem kafkaesk anmutenden Universum um Vertrauen und Verrat kreisen, werden nicht abschließend beantwortet, sondern an den Zuschauer delegiert. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
unafilm/WDR
Regie
Dirk Lütter
Buch
Dirk Lütter
Kamera
Henner Besuch
Musik
Falko Brocksieper · Lars Niekisch
Schnitt
Antonia Fenn
Darsteller
Joseph Bundschuh (Jan Westheim) · Anke Retzlaff (Jenny Sikorski) · Anja Beatrice Kaul (Marianne Westheim) · Stefan Rudolf (Tobias Hoffmann) · Dagmar Sachse (Susanne Ostermeier)
Länge
89 Minuten
Kinostart
05.04.2012
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
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Diskussion
Jan ist Auszubildender im Kundenzentrum einer Dienstleistungsfirma: ein schweigsamer junger Mann, der seine Gedanken und Gefühle nur selten nach außen sichtbar werden lässt. Er hofft auf einen Anstellungsvertrag, aber niemand will sich festlegen. Beim Personalgespräch, mit dem der Film beginnt, fragt ihn ein Vorgesetzter nach seinen Stärken und Entwicklungsfeldern; die Rede ist auch von „Performance-Indikatoren“: Worthülsen der schönen neuen Arbeitswelt. Letztlich aber ist es egal, wie Jan sich selbst bewertet: Die Entscheidungsgewalt über seine berufliche Zukunft liegt sowieso bei einer fernen Zentrale, deren Strategien keiner durchschauen, geschweige denn beeinflussen kann. Mit seinem Debütfilm gelingt Dirk Lütter das präzise Porträt moderner Arbeits- und Lebensumstände der so genannten Mittelschicht. Jans Firma: ein steriles Büro; die Angestellten gleichsam an ihre Laptops gefesselt, zu Sprachrobotern degradiert. Von einer anonymen Macht wird der Befehl zu höherer Effizienz nach unten durchgereicht; wer Schwächen zeigt oder aufbegehrt, gerät aufs Abstellgleis. Jan erlebt das mit Susanne, seinem „Coach“: Wenn sie in einer der ersten Szenen, mitten in einem Dienstgespräch, plötzlich niest, also eine unkontrollierbare menschliche Regung zeigt, dann ist das schon das erste filmische Signal dafür, dass ihr Gefahr droht. Auch Jans Mutter, die sich im Betriebsrat engagiert, bekommt den Gegendruck zu spüren, der schließlich bis zum physischen Zusammenbruch führt. Lütter hätte das alles zu einem gefühlsmäßig aufgeladenen, moralisierenden Traktat aufbauschen können, entschloss sich aber zum genauen Gegenteil – und das macht die Stärke des Films aus: „Die Ausbildung“ reißt den Zuschauer nie in den Sog dramatischer Emotionen, sondern öffnet mit seiner an Harun Farockis Dokumentarfilmen geschulten, kühl-analytischen Distanziertheit die Augen für ein Universum, in dessen Gefangenschaft man zu geraten droht, wenn man es nicht erkennt, sich nicht zu wehren beginnt. Dabei sind es keineswegs nur jene menschenverachtenden Ausbeutungsstrukturen, die Lütter beschäftigen; ihn treibt auch das Ausgeliefertsein an die Technik um: Kommuniziert wird vorwiegend per Computer; am Eingang der Firma und in der Kantine braucht man Chipkarten; Fernsehgeräte flimmern; ein schwarzer Kasten auf dem Stubentisch zeigt Familienfotos am laufenden Band; mit unbewegtem Gesicht konsumiert Jan auch einen Pornofilm am Computer, um sich gleich danach, ebenfalls per Laptop, ein Handy zu kaufen. Seinen inneren, meist sehr gebändigten Zorn lässt er in nächtlichen Autorasereien aus, oder indem er neu gekaufte Kleidungsstücke mutwillig zerstört und zum Umtausch bringt: individualistische Auflehnungsversuche gegen die Welt, in der er sich einzurichten gezwungen sieht. Zwischen all diese Szenen blendet Lütter mehrfach einen gemischten Chor ein, dessen klassische Lieder das Gesehene unaufdringlich, fast wie in einem brechtschen Lehrstück kommentieren. Der Film verzichtet weitgehend auf Schwenks und Großaufnahmen; stattdessen bevorzugt der Regisseur feststehende halbnahe und halbtotale Einstellungen, die das Umfeld der Figuren mit einbeziehen. So wird Susannes Überforderung auch durch ihren unaufgeräumten Schreibtisch erzählt; und das großformatige abstrakte Gemälde im Zimmer des Abteilungsleiters entspricht der Kälte der blumenlosen, von persönlichen Gegenständen vollkommen befreiten Räume aus Glas und Beton. Seine spannendsten Momente hat der lakonische Film, wenn er Jans moralisches Dilemma zu umreißen sucht: Unterstützt er Susanne, indem er dem Abteilungsleiter von ihren gesundheitlichen Sorgen, vielleicht sogar von ihrem behinderten Sohn berichtet – oder denunziert er sie mit solchen privaten Informationen, die Susanne selbst eher für sich behält? Jan wird lernen müssen, dass zwischen gut gemeinter Hilfe und Verrat nur ein kleiner Schritt ist. Was solche Erfahrungen für seine Zukunft ausmachen, serviert der Film nicht auf dem Tablett eines wohlfeil abgerundeten Finales. Er lässt vielmehr alles offen: Heftige Skepsis und doch auch ein klein wenig Hoffnung.
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