Gangsterläufer

Dokumentarfilm | Deutschland 2010 | 93 Minuten

Regie: Christian Stahl

Vier Jahre lang begleitet der Filmemacher einen jugendlichen Straftäter mit libanesischen Wurzeln, der im Berliner Stadtteil Neukölln seine kriminelle "Karriere" verfolgt, bis er als minderjähriger Intensivtäter für drei Jahre hinter Gitter wandert. Ohne wohlfeile Erklärungen und Schuldzuweisungen entwickelt der Dokumentarfilm ein facettenreiches Porträt, das den Protagonisten als widerspruchsvolle Persönlichkeit konturiert, die unter ungünstigen sozialen Bedingungen und zwischen verschiedenen kulturellen Bezugspunkten keine stabile Orientierung findet. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Hanfgarn & Ufer/RBB/ARTE/ZDF (Das kleine Fernsehspiel)
Regie
Christian Stahl
Buch
Christian Stahl
Kamera
Ralf Ilgenfritz
Musik
Tilmann Dehnhard
Schnitt
Johannes Fritsche
Länge
93 Minuten
Kinostart
09.02.2012
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Yehya ist 15 und seinem Traum, ein großer Gangster zu werden, schon recht nahe gekommen. Er sei einer der großen Zehn von Neukölln, brüstet er sich vor der Kamera, und so etwas wie einen eigenen Staatsanwalt habe er auch schon. Rund 50 Delikte hat der Sohn libanesischer Einwanderer bereits vor seiner Strafmündigkeit begangen. „Körperverletzung, Raub, Erpressung und so“, sagt Yehya beiläufig, als hätte er nur ein paar Kirschen aus Nachbars Garten geklaut. Bei der Justiz wird er als jugendlicher Intensivtäter geführt. Der Teenager weiß durchaus, dass er unter Dauerbeobachtung steht. „Noch ein Ding“, sagt er, „und ich bin im Knast.“ Es klingt nicht, als würde ihm diese Aussicht Kopfzerbrechen bereiten. Gefängnis, das ist für ihn ein Ort, an dem man in jungen Jahren einmal gewesen sein muss, wenn man unter seinen Kumpanen in Berlin-Neukölln etwas gelten will. Zwei Jahre nach diesen Aufnahmen steht Yehyas Vater in der Wohnung der Familie und bindet sich umständlich einen Schlips um, obwohl er keine Krawatten mag. Doch an diesem Tag will er einen ordentlichen Eindruck machen. Nach einem schweren Raubüberfall sitzt sein Sohn in Untersuchungshaft. Am Prozesstag hofft die Familie, dass Yehya noch einmal mit einer Bewährungsstrafe oder Sozialstunden davon kommt. Doch der noch immer jugendliche Gewalttäter hat seinen Kredit bei der Justiz aufgebraucht und wird zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Fünf Jahre lang hat Christian Stahl Yehya mit der Kamera begleitet. Er habe ihn als höflichen, hilfsbereiten Jungen kennen gelernt, erklärt der Dokumentarfilmer, der damals im selben Haus wie die Familie des Protagonisten wohnte, zu Beginn des Films. Erst später habe er von Yehyas anderem, gewalttätigem Leben erfahren. Diese persönliche Beziehung zwischen dem Autor und seiner Hauptfigur durchzieht den Film. Ihr ist es zu verdanken, dass Stahl dem Jugendlichen wesentlich näher kommt, als man es von vergleichbaren Filmprojekten kennt. Dabei zeigt sich Yehya als durchaus widersprüchlicher Krimineller. In der Schule war er einer der Besten, und auch im Gefängnis ist er in der Lage, sich und sein Leben zu analysieren: „In der Clique, in der Familie, bei meiner Freundin – überall musste ich ein anderes Bild von mir abgeben. Ich war Schauspieler.“ Ob es ihm jemals gelingen wird, dieses Rollenspiel zu verlassen, bleibt am Ende offen. Neben seiner Hauptfigur folgt der Film Yehyas religiösen Eltern, die angesichts ihrer Kinder (die anderen Söhne drohen ebenfalls auf die schiefe Bahn zu geraten) zunehmend verzweifeln. „Warum nur?“, fragt der Vater immer wieder, den der Filmemacher auf einer deprimierenden Reise in seine Heimatstadt Beirut begleitet. Eine Frage, auf die der Film keine Antwort geben kann, wie Stahl überhaupt auf alle eindimensionalen Erklärungsmuster verzichtet. Auch aus einer verfehlten Einwanderungspolitik, die Flüchtlingen wie Yehyas Vater 14 Jahre lang eine Arbeitserlaubnis vorenthielt, wird kein zwingender Kausalzusammenhang hergestellt. So ist der Film, dessen Titel auf eine unter Jugendlichen praktizierte, brutale Version des Fangen-Spiels zurückgeht, das lebendige, höchst eindrucksvolle Porträt eines jungen Mannes, der zwischen den Kulturen die Orientierung verloren bzw. nie gefunden hat.
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