Ein Sommer in Haifa

- | Israel 2010 | 117 Minuten

Regie: Avi Nesher

Ein 16-Jähriger stürzt 1968 in Haifa in massives Gefühlswirrwarr. Eine Coming-of-Age-Geschichte als spannungsvolles Bild des jungen Staates Israel, in dem die Erinnerung an die Shoah wie ein Schatten über den Gemütern liegt. Um die Figur des jungen Mannes entfaltet sich ein facettenreiches Spektrum aus Liebe, Schmerz, Verdrängung und Vorurteilen, wobei die Erzählhaltung trotz der Schwere der Themen von einer gewissen Leichtigkeit geprägt ist und der Hoffnung Ausdruck verleiht, dass die Monstrosität der Vergangenheit nicht das letzte Wort behält. (O.m.d.U.) - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
THE MATCHMAKER | ONCE I WAS | PAAM HAYITI
Produktionsland
Israel
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Metro Comm./Artomas Comm./United Channel Movies
Regie
Avi Nesher
Buch
Avi Nesher
Kamera
Michel Abramowicz
Musik
Philippe Sarde
Schnitt
Isaac Sehayek
Darsteller
Tuval Shafir (Arik Burstein als Jugendlicher) · Adir Miller · Tom Gal (Benny Abadi) · Dror Keren (Meir, der Bibliothekar) · Neta Porat (Tamara)
Länge
117 Minuten
Kinostart
02.02.2012
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
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Heimkino

Verleih DVD
Bildkraft (16:9, 1.78:1, DD2.0 hebrä.)
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Diskussion
Es gibt viele schreckliche Geschichten über den Holocaust und viele Filme, die dem Unvorstellbaren ein Gesicht zu geben versuchen, woraus letztlich freilich nur eine Fratze werden kann. Eine Perspektive, die häufig verwandt wird, um über das Grauen dieser Zeit zu erzählen, ist die indirekte Erinnerung: In Filmen wie „Sophies Entscheidung“ (fd 23 979) oder „Der Pfandleiher“ (fd 15 078) sind die Vernichtungslager zwar schon Geschichte, haben ihre verheerende Macht über das Leben der einstigen Opfer aber noch nicht verloren. Paul Schraders „Ein Leben für ein Leben“ (fd 39 128) erzählte jüngst von Überlebenden, die in den 1960er-Jahren in einer Heilanstalt für Holocaust-Überlebende mit den Traumata der Vergangenheit ringen. Jeff Goldblum verkörpert darin den deutschen Komiker Adam Stein, der um des Überlebens willen im KZ den Hund des Lagerkommandanten mimte – und nun einem kleinen Jungen, der sich für einen Hund hält, ein neues Leben schenken kann. Avi Neshers „Ein Sommer in Haifa“ hingegen sieht so aus, wie sein Titel klingt; mit einer Fratze hat das wenig zu tun – und doch zeichnet der Film ein spannungsvolles Bild des noch jungen Staats Israel in den 1960er-Jahren und damit auch vom Umgang mit der Shoah. Es ist eine Jugend-Romanze in der flirrenden Hitze Haifas, die sich vor Ariks innerem Augen entspinnt, als ihm während des Libanon-Kriegs im Jahr 2006 das Testament eines Manns verlesen wird, den er als 16-Jähriger kannte. Die Nachwehen der Vernichtung sind 1968 immer noch spürbar. Wie ein Pesthauch liegt das Leid eines ganzen Volkes über der Stadt am Meer. Dieses Leid ist etwas, worüber man nicht spricht, über das man höchstens lesen kann. Betreten fragen die Kunden Ariks Lieblingsbibliothekar mit einer Mischung aus Schaudern und Sensationsgier in den Augen, wo denn das Buch mit den Geschichten über jüdische Frauen und SS-Offiziere stehe, über die Dinge, die man tat, um dem Tod zu entgehen. Für Jugendliche wie Arik ist die pornografisch angehauchte „Stalag“-Literatur, dieses kurz aufflackernde israelische Genre exploitativer KZ-Groschenromane, offiziell natürlich nichts, weder verbal noch literarisch; und doch wird Arik in Clara eine Frau kennen lernen, die unter dem Generalverdacht gegen die Überlebenden leidet. Arik beginnt 1968 wie viele andere junge Menschen Fragen an die verdrängte Vergangenheit seiner Eltern zu stellen, die freilich ganz anders ausfallen als die seiner westlichen Altersgenossen. Das Testament, das alles wieder aufrührt, stammt von Yankele Braid. Er war ein Heiratsvermittler, bei dem Arik damals anheuerte, um die besonders hoffnungslosen Fälle auszuspionieren, die sich Yankele auf die Fahne geschrieben hatte. Denn Yankele ist kein Kuppler, er will nicht „Techtelmechtel“, sondern die wahre Liebe vermitteln. „Ich gebe ihnen nicht, was sie wollen, ich gebe ihnen, was sie brauchen“, fährt er seinen Kunden über den Mund, wenn sich diese über die fehlende Attraktivität ihres Partner-to-be beschweren. „Liebe auf den ersten Blick bedeutet Scheidung auf den zweiten.“ Das ist einer der Standardsätze, mit denen Yankele seine Kunden ködert. Dabei bräuchten Arik und Yankele selbst ein wenig Schützenhilfe in den Gefechtsbunkern der Liebe: Yankele ist in die verschlossene Clara, Arik in die wilde Tamara aus Amerika verliebt, die von ihrem Vater für diesen Sommer zu Ariks bestem Freund „abgeschoben“ wurde. Tamara personifiziert mit ihrer emanzipierten Attitüde zugleich eine Geisteshaltung, die Arik so begehrenswert wie suspekt erscheinen. Das ist das Schöne an diesem „Sommer in Haifa“, der einem mit seinem Fächer voller Themen erzählerisch immer wieder frische Luft zuwedelt. Denn es geht nicht allein um Ariks Sommer, sondern um die Stimmung eines Vielvölkerstaats mit tragischer Vorgeschichte, die ihren Schatten auf seine Bürger wirft. Es wird von Liebe, von Schmerzen, Verdrängung und Vorurteilen erzählt, die in den sozial so unterschiedlich gestellten Vierteln Haifas schwelen. Der spätere Schriftsteller Arik lernt in diesen Monaten nicht nur seine bahnbrechende Fantasie auf Papier zu bannen, er lernt auch eine Liebe kennen, die wartet und duldet, weil es für die geliebte Person das Beste ist. Erzählt wird das mit einer bewundernswerten Leichtigkeit trotz aller Schwere der Themen – was ein bisschen wie die drückende Hitze wirkt, die Arik und Tamara nicht davon abhält, einen steilen Berg zu erklettern. Mitten auf dem Abhang küssen sie sich – obwohl sie dafür eigentlich gar keinen Atem mehr haben.
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