Kaddisch für einen Freund

Drama | Deutschland 2011 | 93 Minuten

Regie: Leo Khasin

Ein 14-Jähriger ist mit seiner palästinensischen Familie in Deutschland nur geduldet. Als er mit Freunden in Berlin die Wohnung eines aus Russland emigrierten Juden verwüstet, wird er erwischt und muss, um der Abschiebung zu entgehen, bei der Renovierung helfen. Das kammerspielartige Drama lässt in der Generationen übergreifenden Annäherung die ganze Gefühlsskala historischer Verwicklungen an, wobei am Ende die Freundschaft über politisch-religiöse Dogmen siegt. Der beachtliche Debütfilm vertraut auf die Konventionen einer naturalistischen Inszenierung, geizt aber auch nicht mit komischen Momenten. Manche Nebenfigur gerät mitunter etwas stereotyp, während die vorzüglichen Hauptdarsteller für berührende Momente sorgen. - Ab 14.
Zur Filmkritik filmfriend Im Kino sehen

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Sima Film/WDR/BR/ARTE
Regie
Leo Khasin
Buch
Leo Khasin
Kamera
Mathias Schöningh
Musik
Fabian Römer · Dieter Schleip
Schnitt
Horst Reiter
Darsteller
Ryszard Ronczewski (Alexander) · Neil Belakhdar (Ali) · Neil Malik Abdullah (Walid) · Sanam Afrashteh (Mouna) · Kida Khodr Ramadan (Mahmoud)
Länge
93 Minuten
Kinostart
15.03.2012
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Diskussion
Der Nahe Osten mitten in Berlin? Da muss schon ein Debütant kommen, um das buchstäblich auf der Straße liegende Thema aufzugreifen. Der 1973 in Moskau geborene Leo Khasin landete selbst als Achtjähriger in Deutschland. Die Idee zum Drehbuch entstand in einer Zahnarztpraxis, wo er einige Jahre lang seinem Erstberuf nachging. Die Praxis lag offenbar in einem „Problembezirk“. Nationalitäten aller Couleur, überwiegend russische Juden und muslimische Asylanten, gaben sich die Klinke in die Hand. Zwei Patienten, ein libanesischer Junge und ein russisch-jüdischer Rentner, animierten ihn zu einer konfliktgeladenen Begegnung, die „Kaddisch für einen Freund“ mit viel Sinn für emotionale Grenzsituationen zu nutzen weiß. In einem Kreuzberger Mietshaus trifft ein russisch-jüdischer Einwanderer auf eine renitente Gruppe Jugendlicher mit arabischem Hintergrund. Sie verwüsten seine Wohnung und hinterlassen antijüdische Parolen auf den Wänden, was die Behörden auf den Plan ruft, die den 84-jährigen Alexander in einem Heim unterbringen wollen. Der resolute Alte weigert sich, ist aber damit einverstanden, dass einer der Jungs, den er bei dem Einbruch als seinen Nachbarn erkannte und dessen palästinensischer Familie nun in Folge der Anzeige die Abschiebung droht, seine Strafe bei ihm als Renovierungsgehilfe ableistet – und das, obwohl der 14-jährige Ali aus einem Umfeld stammt, in dem es zum guten Ton gehört, „die Juden“ zu hassen. Der Rentner ist auf die Hilfe angewiesen, da er nur in der Wohnung bleiben darf, wenn er die Aufräumarbeiten eigenverantwortlich zu bewältigten weiß. Im Gegenzug verspricht er Ali, die Anzeige nach der Renovierung rückgängig zu machen. Dramaturgisch ist diese für das verfeindete Duo lästige Zwangssituation die Gelegenheit für ein auch politisch ambitioniertes Kammerspiel, in dem die ganze Gefühlsskala geschichtlicher Verwicklungen – von Misstrauen über Wut bis zu Sympathie und Intimität – das Geschehen dominiert. Alexander lässt es sich nicht nehmen, den trotzigen Jungen zu schikanieren, entdeckt und fördert aber dessen künstlerische Begabung. Alis Zeichnungen sind dann auch die Grundlage für einen ersten Waffenstillstand, zumal die Familie des Jungen dessen Ambitionen strikt ablehnt. Ali wiederum empfindet Respekt für Alexanders sportliche Vergangenheit. Allerdings gelingt es diesem nicht, seine Klage zurückzuziehen. Obwohl sich zwischen beiden eine zaghafte Nähe eingestellt hat, sieht sich Ali in seinen Vorurteilen bestätigt; seine alte Gang und sein Vater brandmarken ihn als Verräter, was immerhin dazu führt, dass er eine neue, weniger eindimensionale Identität entwickelt. Auch der Geschädigte zeigt sich vor Gericht trotz des Zerwürfnisses lernfähig und bewirkt mit einer pathetisch-mitfühlenden Versöhnungsrede eine lediglich symbolische Bestrafung des Eindringlings. Für ihn selbst geht die Kollision mit den Behörden weniger glimpflich aus. Er kollabiert nach seinem Auftritt und stirbt im Krankenhaus. Im Finale spricht Ali, der auf der Suche nach Alexanders Sohn von dessen Tod als Soldat im Libanon-Krieg von 1981 erfährt, für seinen „unmöglichen“ Freund das Kaddisch, das jüdische Totengebet. Khasin vertraut zu Recht auf die Konventionen einer naturalistischen Inszenierung. Er dreht die Dialektik der generationsübergreifenden Begegnung, die nicht anders als determiniert sein kann, hin und her und findet einen stets möglichen Ausweg in die Privatheit des sich Kennenlernens. Die Konzentration liegt dank der mobilen Kamera ganz auf den Figuren, die gegen alle äußeren Gruppenzwänge zueinander finden. Diese geraten mitunter zwar arg stereotypenhaft – vor allem die Jugendgang wimmelt von U-Bahn-Schlägern –, tragen aber auch in ihrer Zuspitzung zur glaubwürdigen Charakterzeichnung bei. Eine schauspielerisch mehr als dankbare Konstellation, die beide Darsteller zu Höchstleistungen antreibt. Ryszard Ronczewski, der hier nahtlos an die Rolle des starrsinnigen Alten in Robert Thalheims „Am Ende kommen Touristen“ (fd 38 281) anknüpfen kann, und Neil Belakhdar als empfindsamer Pubertierender, der den Menschen hinter der Hassprojektion zu tolerieren lernt, sorgen für berührende Momente in einem beachtlichen Debüt, das auch mit komischen Momenten nicht geizt und auf das nächste, aufs Schönste utopisch sentimental glühende Werk hoffen lässt.
Kommentar verfassen

Kommentieren