Aurora (2010)

- | Rumänien/Frankreich/Schweiz/Deutschland 2010 | 181 Minuten

Regie: Cristi Puiu

Ein eben geschiedener Mann Anfang 40 streift zwei Tage lang ruhelos durch Bukarest, getrieben von einer unbestimmten Nervosität und dem dumpfen Drang, seinem Leben eine Wendung zu geben. Er kauft sich ein Gewehr und Munition, versteckt sich in der Nähe eines Hotels und beginnt, scheinbar fremde Menschen zu erschießen. Eine beklemmende, konzentriert inszenierte, weitgehend wortlose Studie über den Absturz eines Menschen, die in ihrem Verlauf immer offener und rätselhafter wird. Der mit statisch-langen Einstellungen erzählte Film geizt mit Informationen, lässt sich aber als diffuses Echo auf eine postsozialistische Welt verstehen. - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
AURORA
Produktionsland
Rumänien/Frankreich/Schweiz/Deutschland
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Mandragora/Romana de Televiziune/TSR/SSR/Essential Filmprod./Bord Cadre Films/S.F.P.
Regie
Cristi Puiu
Buch
Cristi Puiu
Kamera
Viorel Sergovici
Schnitt
Ioachim Stroe
Darsteller
Cristi Puiu (Viorel) · Clara Voda (Gina) · Valeria Seciu (Pusa) · Luminita Gheorghiu (Mioara) · Catrinel Dumitrescu (Frau Livinski)
Länge
181 Minuten
Kinostart
29.03.2012
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
„Die Großmutter sollte nackt sein.“ Am Anfang steht ein latent absurdes Gespräch zwischen einem Elternpaar über diesen Satz ihrer Tochter. In Grimms Märchen „Rotkäppchen“, so hatte die Tochter argumentiert, könne es nicht stimmen, dass die Großmutter angezogen aus dem Bauch des Wolfs befreit werde, denn der hatte ja ihre Kleider an. „Stimmt“, sagt der Vater. Genaues Hinsehen und -hören, ruhiges Nachdenken sind auch bei „Aurora“ unverzichtbar. Es geht um die Erinnerung an die Abgründe, die jeder Idylle innewohnen und denen man oft erstmals in jenen Kindermärchen begegnet, in denen immer alles ganz anders werden kann, im Guten wie im Bösen. So geht es einem auch in „Aurora“ von Cristi Puiu, der 2005 mit „Der Tod des Mr. Lazarescu“ den bis heute anhaltenden Boom des rumänischen Films einleitete. Auch „Aurora“ mutet gewissermaßen „rumänisch“ an: Am Anfang gibt es Schlamm und Regen, hässliche Menschen und Elend. Doch der Film ist viel ruhiger und geduldiger, konzentrierter inszeniert als viele Werke aus Rumänien, deren Stärke in der Inszenierung eines chaotischen, unsicheren, ins Wanken geratenen Alltags liegt, der mit einer bewegten, „dogma“-artig mobilisierten Handkamera eingefangen wird. Hier ist das Gegenteil der Fall: Lange, statische, sehr bewusst komponierte Einstellungen dominieren das sich in aller Ruhe entfaltende dreistündige Szenario, das im Verlauf immer offener, geheimnisvoller und rätselhafter wird. In der letzten Stunde folgt dann eine Phase, in der sich eine atemberaubende Szene an die nächste reiht. Man begleitet den Vater aus der Anfangsszene (Puiu spielt diese Hauptrolle selbst) zunächst durch sein Leben in der aufregend-vielschichtig gezeichneten Metropole Bukarest: Arbeitslosigkeit, Einkauf im Billigsupermarkt. Kaum ein Wort wird gesprochen. Ein Mensch, den man nicht mag. Man erkennt seinen Menschenhass. Man denkt an Camus’ „Der Fremde“, sieht, wie er übt, um sich zu erschießen. Einer der intensivsten, besten Momente dieser ersten Filmhälfte ist der Besuch der Hauptfigur in einer Nobelboutique. Er fragt nach einer Frau, die dort gearbeitet hat, wird immer zudringlicher, beleidigt die Angestellten. Da man um seine Gewaltfantasien weiß, glaubt man, dass die Spannung jeden Moment explodieren und in ein Blutbad münden werde. Doch nichts dergleichen passiert. Zunächst bleibt es bei einem Menschen unter Druck, der in Verhalten wie Motiven bis zum Ende unverständlich, ja völlig ungreifbar bleibt. Irgendwann beginnt der Mann dann, aus völlig unerfindlichen Gründen Menschen zu erschießen, mit denen er kaum etwas zu tun hat. So scheint es zumindest. Die Kamera zeigt das alles neutral und distanziert, manchmal aus Nebenräumen. Der Zuschauer ist gezwungen, sich in aller Ruhe mit der Figur auseinander zu setzen. Im Unterschied etwa zu Corneliu Porumboius „Police, adjective“ (fd 40 850) ist ein gewisser Sadismus nicht zu übersehen, wenn der Regisseur das Publikum in die ästhetische Klippschule schickt und dort nachsitzen lässt. Es ist fraglos kein Fehler, sondern ein bewusst gewählte Methode, dass der Film den Zuschauer komplett allein lässt und mit Informationen über Ort, Figuren und Geschichte überaus geizig umgeht. Der Film bleibt in der Schwebe, scheint ästhetisch wie gedanklich nie ganz auf den Punkt zu kommen. Er entschließt sich trotz komischer Momente nie zur Komödie, aber auch nicht dazu, die Brutalität wirklich brutal zu zeigen. Man kann sich viel denken – und muss das auch, denn der Film hilft nicht dabei, er belohnt auch die Geduld des Zuschauers nicht. Daher ist der Gesamteindruck zwiespältig: So genau „Aurora“ auch inszeniert ist, so stark die anfängliche Irritation wirkt, so sehr ist ihm ein gewisses Raunen eigen. Etwas zu offensiv trägt der Film seine Bedeutsamkeit vor sich her. Natürlich inspiriert das alles zur Reflexion über Themen wie Gewalt in der Gesellschaft, Postkommunismus, das Wirken der Securitate oder über die grundsätzlich kafkaesken Verhältnisse in Osteuropa. Wo im Kino laut geschwiegen wird, liegt immer die These nahe, dass hier besonders eindringlich über „Kommunikationslosigkeit“ gehandelt wird. Denkt man derartige Interpretationsschneisen in „Aurora“ hinein, macht alles Sinn; dann ist dies ein wichtiger Film, und der Betrachter hat gute Gründe, demütig erst einmal in sich zu gehen und weiter nachzudenken. Aber gänzlich befriedigen kann das Vorgehen des Filmemachers nicht. „Aurora“ ist zwar eine beklemmende Studie über einen pathologischen Einzelgänger und den bösen Wolf in uns allen. Es ist auch eine Studie im filmischen Sehen, die sich der Strategien eines Strangs des klassischen Modernismus bedient: Lakonie, Ruhe, Statik. Aber Puiu verfällt einem Fetisch der Mittel. Und er drückt sich um das notwendige Minimum an Positionierung, indem er eine Projektionsfläche entwirft, die derart offen und beliebig ist, das der Betrachter am Ende nicht mehr irritiert wird, sondern genau das finden wird, was er zuvor schon über Rumänien, das Kino und den Menschen an sich gedacht hat.
Kommentar verfassen

Kommentieren