The First Rasta

Dokumentarfilm | Frankreich/Mauritius 2010 | 89 (24 B./sec.)/86 (25 B./sec.) Minuten

Regie: Hélène Lee

Dokumentarfilm über den Jamaikaner Leonard Percival Howell (1898-1981), dessen spirituelle und politische Ansichten den Grundstein der Rastafari-Bewegung legten. Er rekonstruiert Howells Leben mit Hilfe des nur spärlich vorhandenen Archivmaterials sowie von Interviews und einer Voice-Over-Erzählung, zeigt seine Verbindung zu politischen und kulturellen Strömungen seiner Zeit auf und verbindet dies mit einem Blick auf das heutige Jamaika. Ein differenziertes Porträt, das Klischees der Rastafari-Bewegung unterläuft. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
THE FIRST RASTA | LE PREMIER RASTA
Produktionsland
Frankreich/Mauritius
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Kidam
Regie
Hélène Lee · Christophe Farnarier
Buch
Hélène Lee
Kamera
Christophe Farnarier
Musik
Fred Gremeaux · Jean-Christophe Caron
Schnitt
Nini Ranaivoarivony
Länge
89 (24 B.
sec.)
86 (25 B.
sec.) Minuten
Kinostart
26.04.2012
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Von Leonard Percival Howell existieren nur wenige Fotografien und eine einzige Filmaufnahme: die von seiner Beerdigung. Die bewegten Bilder sind grobkörnig, leicht verwackelt und blaustichig und von einer seltsam geisterhaften Atmosphäre bestimmt – ein Vorbote des Vergessens, so scheint es, denn der Begründer der Rastafari-Bewegung, einst als Staatsfeind und Bedrohung der kolonialen Ordnung politisch verfolgt, verschwand schon bald aus der Erinnerung. Bereits Jahre vor seinem Tod war Howell zur marginalen Figur abgestempelt worden; andere hatten seinen Grundsatz von der „Spiritualität als Netzwerk“ weiterverbreitet, mit anderen Mitteln, der Reggaemusik. Heute ist Howell selbst in seinem Heimatland Jamaika nahezu unbekannt; diesen Eindruck erweckt zumindest Hélène Lees Film, der mit einer Umfrage auf offener Straße beginnt. „The First Rasta“ verbindet die Rekonstruktion von Howells nicht eben umfassend dokumentierter Biografie und ihre Verbindung zu den politischen wie kulturellen Strömungen ihrer Zeit mit einem Blick auf das heutige Jamaika – vor allem auf das, was von Howells ehemaliger Community übrig geblieben ist. Einige seiner Anhänger erinnern sich lebhaft an die gewaltsame Auflösung der ersten Rasta-Kommune Pinnacle Mitte der 1950er-Jahre; Howell hatte sie 1939 etwa zehn Kilometer von der ehemaligen jamaikanischen Hauptstadt Spanish Town gegründet. Der Widerstand der früheren Weggefährten gegen Imperialismus, politische Bevormundung und „babylonische“ Missstände ist nach wie vor ungebrochen, im Film sprechen und singen sie dagegen an; von England etwa fordern sie Entschädigungszahlungen. Howell wurde 1898 im Süden Jamaikas geboren. Seine erste widerständige Geste gegen das koloniale System praktizierte er im Kindesalter: Er war Zeuge eines Mordes, weigerte sich aber, mit der Justiz zu kollaborieren. Als Seemann bereiste er zwischen 1915 und 1932 die ganze Welt und kam dadurch in Kontakt mit der „Avantgarde der Revolutionen“ – mit Bolschewisten, Anarchisten und Überlebenden von Pogromen. Im New York der „Roaring Twenties“ tauchte er in das kulturelle Leben der Harlem Renaissance ein, lernte erstmals ein kämpferisches schwarzes Selbstverständnis kennen sowie die Theorien von Marcus Garvey, der die Rückkehr aller Schwarzen nach Afrika propagierte. Der Film präsentiert die Rastafari-Idee als eine von verschiedenen Einflüssen und Begegnungen geprägte Bewegung, die Howell an die spezifischen Bedingungen des kolonialen Jamaika adaptierte. Den schwarzen Messias sah er im äthiopischen Kaiser Haile Selassie verkörpert – nach seinem Vorbild ließen sich Howells Jünger lange Haare und Bärte wachsen. Den Behörden auf Jamaika war nicht nur die spirituelle Ausrichtung der Rastafaris ein Dorn im Auge, sondern auch ihre Bestrebungen nach ökonomischer Unabhängigkeit. Immer wieder wurde Howell inhaftiert oder in psychiatrische Anstalten abgeschoben. Lee verbindet Archivmaterial und eine Voice-Over-Erzählung mit Interviews; sie besucht historische Plätze wie das zerstörte Gerichtsgebäude, in dem der Prozess gegen Howell stattfand. Nicht immer gelingt der Regisseurin eine organische Erzählung, manches wirkt abgekürzt oder etwas aus dem Kontext gerissen. Auch lassen die Interviews mit Howells ehemaligen Weggefährten, Bekannten und Verwandten geografische und personelle Angaben vermissen; die Zusammenhänge muss man sich aus den Aussagen zusammenreimen. Dennoch entwirft der Film eine ebenso umfassende wie politisch komplexe Perspektive auf eine vergessene Figur, die wenig gemein hat mit den noch immer kursierenden Rasta-Klischees. Dass diese nach wie vor hartnäckig reproduziert werden, demonstriert das Ende des Films, das einen weißen Reggae-Musiker auf einer Konzertbühne bei den gängigen, Kollektivität beschwörenden Ritualen zeigt. Vielleicht mag sich damit der globale Gedanke Howells realisiert haben; der Kontext, aus dem er hervorgegangen ist, ist nicht mehr anwesend.
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