Schildkrötenwut

Dokumentarfilm | Deutschland 2012 | 70 Minuten

Regie: Pary El-Qalqili

Die Filmemacherin setzt sich mit ihrem Vater, einem Palästinenser, auseinander. Dieser verließ seine Familie in Berlin und kehrte in seine Heimat zurück, bis er dort ausgewiesen wurde, wieder nach Berlin zurückkehrte, aber zu Frau und Tochter auf Distanz blieb. Der sehr persönliche, spannungsvolle Dokumentarfilm beschreibt die konfliktreichen Versuche der Tochter, ihren Vater über seine Erfahrungen und Entscheidungen zum Reden zu bringen. Zugleich begleitet er ihn auf einer neuerlichen Reise in den Nahen Osten und eröffnet eine ungewohnte Perspektive auf den Nahost-Konflikt, wobei er mit seinen offenen Fragen konstruktiv und produktiv irritiert. (O.m.d.U.) - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2012
Produktionsfirma
Kaissar Film/BR/ARTE/Hochschule für Film und Fernsehen München (HFF)
Regie
Pary El-Qalqili
Buch
Pary El-Qalqili · Silvia Wolkan
Kamera
Aline László
Schnitt
Ulrike Tortora
Länge
70 Minuten
Kinostart
10.05.2012
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Ein mehrstöckiges Wohnhaus in der Dämmerung. Von außen sieht man schemenhaft, wie sich auf verschiedenen Etagen zwei Figuren in den erleuchteten Zimmern bewegen. Dazu sagt eine weibliche Stimme aus dem Off: „Zwei Schatten in einem Gefängnis.“ Die Stimme gehört der Filmemacherin Pary El-Qalqili, das Gebäude ist ihr Elternhaus in Berlin, die beiden „Schatten“ sind ihr Vater und ihre Mutter. Eine Einstellung, die zu Beginn und am Ende dieses außergewöhnlichen Dokumentarfilms zu sehen ist. In den Minuten dazwischen versucht die Filmemacherin (Jahrgang 1982) zu schildern, wann und wieso aus ihrem Elternhaus ein „Gefängnis“ wurde. 1961 flüchtet der Vater aus Palästina nach Berlin, arbeitet auf dem Bau, lernt seine Frau, eine deutsche Lehrerin, kennen und engagiert sich von Deutschland aus für den Freiheitskampf der Palästinenser. Als seine Tochter zwölf Jahre alt ist, verlässt er seine Familie und kehrt in seine Heimat zurück. Um vor Ort zu kämpfen, aber auch um ein Haus zu bauen. „Ich wollte in meiner Heimat“, sagt der Vater später im Film, „nicht immer nur zu Besuch sein. Ich wollte ein Zuhause haben.“ Mehrere Jahre später steht er wieder vor der Tür seiner Familie in Deutschland. Das Haus in Palästina hat er gebaut, doch dann wurde er von den Israelis als „Illegaler“ aus seinem Heimatland ausgewiesen. Nach seiner Rückkehr hat sich der Vater weitgehend ins Untergeschoss des Hauses in Berlin zurückgezogen, während seine Frau in der Etage darüber lebt. Aus Verbitterung über sein Schicksal lebt der schweigsame Mann heute wie in einem Schildkrötenpanzer. So erscheint es zumindest seiner Tochter, der Filmemacherin. In einem nur von einer nackten Glühbirne erhellten Raum mit gekacheltem Fußboden sitzt sie auf einer Matte und fordert ihren Vater auf, sich zu ihr zu setzen, mit ihr über sein Leben, seine Erfahrungen zu sprechen und zu erklären, warum er sie damals verlassen hat. Doch der Vater reagiert mürrisch, mag nichts sagen. Als er sich schließlich doch setzt, verläuft das Gespräch stockend. Immer wieder zeigt sich der Vater von den Fragen seiner Tochter genervt, steht auf, beschimpft sie und will die Unterhaltung abbrechen. Sequenzen dieses offensichtlich für beide Seiten quälenden Gesprächs bilden den einen Erzählstrang des Films. Der andere besteht aus den Bildern einer längeren Reise, die die Filmemacherin mit ihrem Vater in den Nahen Osten unternimmt. Auch dieser Trip ist von Spannungen geprägt. Zwischendurch gibt es zwar Momente der Annäherung, doch wenig später gerät der Vater wegen einer unliebsamen Frage oder schmerzhafter Erinnerung an einen Ort in Rage oder verstummt. Was den Film so außergewöhnlich macht, ist weniger der Umstand, dass er überaus plausibel zeigt, wie ein politischer Konflikt eine Familie auseinander reißt. Weit mehr ist es die Haltung der Filmemacherin, mit der sie ihre ganz persönlichen Annäherungsversuche an ihren Vater dokumentiert, die zwangsläufig unter dem Eindruck des Nahost-Konflikts stehen, den sie vor allem über seine Person zu verstehen versucht. Während der Reise erzählen andere Menschen in Palästina von ihren Erfahrungen mit Vertreibung und dem Leben in Flüchtlingslagern. Meist sind es wohl Verwandte, doch in welcher Beziehung sie genau zueinander stehen, bleibt häufig unklar, wie der Film überhaupt viel mit Leerstellen arbeitet. Manchmal weiß man nicht, in welchem Land sich die Reisenden gerade befinden oder worum es bei den mal heiteren, mal hitzigen Wortgefechten geht, die der Vater mit Menschen auf der Straße führt. Als er sein Haus verkaufen will, sieht man ihn erregt mit zwei Männern im Garten sitzen und verhandeln. Dabei ist plötzlich von Schulden die Rede, doch wer wem was schuldet, bleibt nebulös. Auch andere Fragen, die sich dem Zuschauer unwillkürlich stellen, bleiben offen. Wie sah der Kontakt zu seiner Familie in Berlin aus, als der Vater in Palästina lebte? Warum kommt die Mutter der Filmemacherin zwar hie und da im Bild vor, äußert sich aber mit keiner Silbe zum familiären Konflikt? Zumindest dafür liefert Pary El-Qalqili im Presseheft eine Erklärung. Da ihre Mutter, so sagt sie, überaus eloquent zu reden verstehe, hätte das im Vergleich zum schweigsamen Vater den Film in eine Schieflage gebracht. Eine irritierende, aber plausible Erklärung. Irritierend bleibt vieles an dem Film, freilich im durchaus positiven Sinne. Gerade durch die radikal persönliche Herangehensweise in Verbindung mit der Offenheit, mit der viele Fragen unbeantwortet bleiben und Konflikte nicht gelöst werden, entfaltet der Film einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann.
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