- | Frankreich/Deutschland 2012 | 115 Minuten

Regie: Leos Carax

Elf Episoden aus dem Leben von Monsieur Oscar, der von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in einer weißen Stretch-Limousine durch Paris chauffiert wird und dabei jeweils in eine andere Existenz schlüpft: Er ist Banker, Bettlerin, Akrobat, Monsieur Merde, Vater, Akkordeonspieler, Killer, Opfer, Sterbender und der Mann, der von der Arbeit nach Hause kommt, wobei er sich im Auto jeweils für den nächsten Auftritt herrichtet. Der hochenergetische Film bietet ein vom Hauptdarsteller Denis Lavant mit beängstigender Präsenz gemeistertes Stakkato voller Einfälle und cinephiler Anspielungen. Er strotzt vor visueller Kraft und Energie und lässt sich als hypnotisch-grotesker Versuch über das Menschsein an der Grenze zu Verfall und Tod interpretieren. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
HOLY MOTORS
Produktionsland
Frankreich/Deutschland
Produktionsjahr
2012
Produktionsfirma
Pierre Grise Prod./Théo Films/Pandora Filmprod./Pola Pandora Filmprod./Arte France Cinéma/WDR-ARTE/Canal+
Regie
Leos Carax
Buch
Leos Carax
Kamera
Yves Cape · Caroline Champetier
Schnitt
Nelly Quettier
Darsteller
Denis Lavant (Monsieur Oscar) · Edith Scob (Céline) · Eva Mendes (Kay M) · Kylie Minogue (Eva Grace) · Elise Lhomeau (Léa)
Länge
115 Minuten
Kinostart
30.08.2012
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Externe Links
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Diskussion
Was für eine schöne Idee! Ein ausgesprochen wohlhabend aussehender Mann verlässt morgens das Haus, um im Laufe eines langen Tages diverse Aufträge zu erledigen und Begegnungen zu vollziehen. Er hört auf den Namen Oscar und wird von Madame Céline in einer weißen Stretch-Limousine durch ein scheinbar verzaubertes Paris gefahren, in dem alles, wirklich alles möglich scheint. Vom Mord bis zum Musical, vom Kobold bis zu Kylie (Minogue). Der radikale Autorenfilmer Léos Carax hatte sich nach exaltierten Meisterwerken wie „Die Nacht ist jung“ (fd 26 871) und „Die Liebenden von Pont-Neuf“ (fd 29 648) und dem allseits überraschenden Flop von „Pola X“ (fd 33 987) weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Nur ab und zu hörte man mal von ihm, zuletzt durch die „Monsieur Merde“-Episode des Omnibus-Films „Tokyo!“ (2008). Sieht man von „Pola X“ einmal ab, der schnell wieder aus den Kinos verschwand, dann war Léos Carax 20 Jahre nahezu unsichtbar, wurde im besten Fall vielleicht für seine Großtaten im 20. Jahrhundert erinnert. Jetzt aber meldet er sich mit „Holy Motors“ in Bestform und gewohnt exzentrisch zurück; mit einem Film, der nach eigenen Angaben direkt aus der Krise, die ein Jahrzehnt währte, erwachsen ist: „Der Film ist aus meiner Unfähigkeit geboren, verschiedene Projekte, die alle in unterschiedlichen Ländern und verschiedenen Sprachen spielen sollten, zu realisieren. Alle hatten dieselben zwei Hindernisse: Geld und Besetzung.“ „Holy Motors“ ist der denkbar schönste Weg aus der Frustration. All die Geschichten, die Carax (vielleicht) erzählen wollte, fließen jetzt zusammen in einen Film, der, von Borges und Bataille, von E.T.A. Hoffmann und Kafka inspiriert, gleichzeitig eine Hommage an das Erzählen, ans Kino und die Kunst der Schauspieler und Maskenbildner darstellt. „Holy Motors“ ist buchstäblich ein Erzählfluss, weil der Zuschauer Zeuge wird, wie Denis Lavant in immer neue Rollen schlüpft: aus dem Banker wird eine Bettlerin, aus der Bettlerin wird ein Tänzer, ein Monster, ein Vater, ein Akkordeonspieler, ein Killer, ein Opfer, ein Sterbender, ein Mann, der von der Arbeit nach Hause kommt. Jede der ästhetisch völlig unterschiedlichen Episoden, unterlegt mit Musik von den Sparks bis Schostakowitsch, ist zugleich ein Verweis auf den Reichtum der Filmgeschichte. So beginnt „Holy Motors“ wie eine Reminiszenz an „Eraserhead“ (fd 22 752): ein Mann erwacht, entdeckt eine Tür in der Wand, die er mit einem Schlüssel, der ihm statt einer Hand eignet, zu öffnen versteht. Durch die Wand betritt er einen Kinosaal. Gespielt wird der Träumer, wie er ihn selbst nennt, von Carax selbst. Nach diesem Vorspiel beginnt die Monsieur Oscar-Handlung. In der Folge wechselt der Film zwischen fiktionalen und semi-dokumentarischen Elementen, wird ein Fantasy-Film, ein Musical, ein Film noir, eine retrofuturistische Science-Fiction. „Holy Motors“ ist ein rätselhaftes Fest der Ideen, eine Feier der Professionalität, mit der Fantasien und Fantasiewelten in Szene gesetzt werden können. In diesem Wechselbad der Identitäten, die bisweilen sogar innerhalb einer Episode noch potenziert werden, wenn sich der Mörder in sein Opfer verwandelt und dann von diesem ermordet wird, stellt die visuelle Hommage an die Stadt Paris die einzige Konstante dar. Und natürlich das fulminante Spiel von Denis Lavant, der hier in nicht weniger als elf Rollen schlüpft. Ganz am Schluss des Films laufen die (Erzähl-)Fäden zwar nicht zusammen, aber zumindest zwei scheinen sich zu kreuzen, zu touchieren. Immerhin erfährt man, was es mit dem mysteriösen Filmtitel auf sich hat. „Holy Motors“ ist (auch) ein ganz konkreter Ort, ein Treffpunkt nach getaner Arbeit. Will man sich einen Reim auf das Gesehene machen? Muss man sich einen Reim darauf machen? Oder soll man das Abenteuer unkommentiert genießen? Kann man das überhaupt? Carax selbst hat in Interviews seinen Protagonisten mit einem Profikiller verglichen, der von Auftrag zu Auftrag eilt. Dem Film scheint aber auch ein Impuls des Widerstandes, des Protests gegen die fortschreitende Virtualisierung der Welt eingeschrieben. Sind „echte“ Erfahrungen noch möglich? Man sieht die Sterbeszene in „Holy Motors“ und denkt plötzlich an „Alpen“ (fd 41 119) von Giorgos Lanthimos. Ist Monsieur Oscar, der ja auch schon den Banker zu Beginn des Films gespielt hat, vielleicht ein moderner Dienstleister, ein Mensch, der existenzielle Leerstellen füllt? Oder ein unsichtbarer Begleiter? Plötzlich scheint Wim Wenders’ „Der Himmel über Berlin“ (fd 26 452) zum Greifen nah; Madame Céline, gespielt von der Georges Franju-Muse Édith Sob, setzt zum Feierabend die alte Maske aus „Augen ohne Gesicht“ (fd 9003) wieder auf – und die Stretch-Limousinen beginnen ein wenig miteinander zu plaudern, bis der Schlaf (auch) sie überkommt. Zuvor hatte Madame Céline Monsieur Oscar zu Hause abgesetzt – und vielleicht doch eher in Oshimas „Max mon amour“? Herrlich! Es könnte immer so weitergehen! Mag der Film sich vielleicht auch etwas zu sehr darin gefallen, dem Zuschauer Rätsel aufzugeben, kann in diesem Jahr doch keine anderer Film „Holy Motors“ an Esprit und purer Lust am Fabulieren das Wasser reichen. Und Rätsel sind ja auch immer Angebote. Diesbezüglich ist Léos Carax sehr großzügig.
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