Dokumentarfilm | Frankreich 2012 | 83 Minuten

Regie: Vincent Dieutre

Eine schwule Liebesgeschichte überlagert sich mit einem Alltagsdrama europäischer Migrationspolitik: "Jaurès" ist ein Gespräch des Filmemachers und einer befreundeten Schauspielerin über Bilder, die über mehrere Monate aus den Fenstern der Wohnung des Ex-Geliebten aufgenommen wurden. Der Abwesende nimmt immer mehr Gestalt an, während Vincent Dieutre gleichzeitig mit der Kamera die Bewegungen eines Flüchtlingscamps unter der Brücke festhält. Eine ebenso zärtliche wie politische Erzählung über Flüchtigkeit. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
JAURES
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2012
Produktionsfirma
La Huit Prod./Cinaps TV
Regie
Vincent Dieutre
Buch
Vincent Dieutre
Kamera
Vincent Dieutre · Jeanne Lepoirie
Schnitt
Mathias Bouffier
Länge
83 Minuten
Kinostart
08.08.2013
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Simons Klavierspiel ist brüchig, ein ständiges Anfangen, Abbrechen und Wiederholen. Dennoch zieht es sich wie ein roter Faden durch „Jaurès“. „Ich wollte, dass er eine Spur hinterlässt“, sagt der Regisseur Vincent Dieutre in einer Szene über seinen ehemaligen Geliebten. Also bat er ihn, ein Klavierstück des Komponisten Reynaldo Hahn einzustudieren, das er später einmal für einen Film verwenden wollte (und es hiermit auch tut). Dieutre erzählt in seinem Filmessay aber noch von einer anderen Flüchtigkeit und Fragilität: Vor Simons Wohnung unweit der Pariser Metrostation Jaurès hatten afghanische Flüchtlinge unter der Brücke zu beiden Seiten des Kanals ein improvisiertes Lager errichtet, das einige Monate später zwangsgeräumt wurde. Die Bilder des Films sind Videoaufnahmen aus den Fenstern der Wohnung von Simon; Dieutre sieht sie sich gemeinsam mit der Schauspielerin Eva Truffaut in einem kleinen Studio an. Die Blicke nach draußen – Simon nannte es „mein kleines Theater“, erinnert sich Dieutre – zeigen zu verschiedenen Jahreszeiten, mal von Nahem, mal im Close-Up oder in Zoombewegungen, den Kanal, die Fassaden des gegenüberliegenden Hauses, einen Atelierraum, in dem ein Künstler an einer Installation mit Neonröhren hantiert, und das Flüchtlingscamp, eine „eigene kleine Welt im Geheimen“: Männer stehen um ein Feuer herum, einer wäscht sich, rollt seinen Schlafsack zusammen, eine kleine Gruppe kniet nieder und betet, die Polizei kommt regelmäßig zu Kontrollgängen vorbei. Wiederholt sieht man auch, wie die Männer in gefährlichen Manövern ein Eisentor mit spitzen Zacken überwinden, das den Zugang zu dem Hohlraum unter der Brücke versperrt. Dieutres Blicke und Kommentare sind dabei empathisch und beziehen eine klare politische Haltung, auch wenn er die Trennung aufrechterhält und bis zuletzt Beobachter bleibt. Verschiedene Erzählungen und Räume finden hier gleichzeitig zusammen: auf der einen Seite eine vergangene Liebesgeschichte, die aufgehoben ist in der Erinnerung und in dem Innenraum der Wohnung geschützt scheint; auf der anderen die Außenwelt, die Realität europäischer Migrationspolitik; schließlich die abgeschirmte Kapsel des Studios im filmischen „Jetzt“. Mitunter überlagern sich die Stimmen; während der Filmemacher erzählt, hört man im Hintergrund Simon leise reden oder Geräusche aus der Wohnung: Schritte, eine Dusche, das Klingeln der Mikrowelle, Küchengeklapper, ein Radio, das einen Bericht sendet über eine Demonstration gegen die herrschende Flüchtlingspolitik, gefolgt vom Wetterbericht. Mitunter verfremdet Dieutre das Bild, wenn er einzelne Elemente – die schützend um den Körper getragene Decke eines Flüchtlings, eine Laterne, eine Taube, die sich auf dem Fenstersims niederlässt – comicartig bearbeitet und mit monochromen Flächen „zumalt“. So konkret der Film im Benennen und Beobachten von Dingen ist, so sehr eröffnet er immer wieder auch einen imaginären Raum, der mit Erinnerung, Verklärung und Fiktionalisierung zu tun hat. Trotz seiner schwebenden, flüchtigen Atmosphäre ist „Jaurès“ nie geheimniskrämerisch. Dieutre sagt ohne Umschweife, was Sache ist, und Truffauts Fragen sind immer direkt: Wo ist das? Was ist das? So erfährt man: Er und Simon haben sich in einem Darkroom kennengelernt, der Ex-Geliebte war verheiratet, er hatte drei Kinder, arbeitete in der Flüchtlingshilfe. Für eine begrenzte Zeit hat das Paar, dessen Zusammenleben eher klandestin war, so etwas wie eine Routine gelebt: Essen, Sex, Schlafen, gemeinsames Frühstücken; nur einen Schlüssel zur Wohnung des Geliebten hat der Filmemacher nie besessen. Dieutre spricht voller Bewunderung und Zärtlichkeit über diesen Mann, über seine politische Arbeit, seine Körperlichkeit und Schönheit – Simon selbst bleibt jedoch unsichtbar, ebenso wie der Ort, von dem aus gefilmt wird. So geht es in „Jaurès“ ganz wesentlich um das Verborgene, um das, was sich nicht zeigt, keine repräsentative Schauseite hat oder dem Blick entzogen bleibt – und dabei doch anwesend ist. Dezidiert nimmt Dieutre räumliche Ordnungen in den Blick: ganz oben die U-Bahn-Trasse mit der Metro, darunter die Brücke mit den vorbeifahrenden Autos und Passanten, zuunterst das Camp, in dem die Flüchtlinge im Ausnahmezustand sich ihre Ordnung einrichten. Auch Dieutre versucht sich in Simons Leben Raum zu schaffen; einmal erzählt er, wie er als erstes in dessen Wohnung sein Lieblingsparfum versprüht habe.
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