Drama | Deutschland/Australien/Großbritannien 2012 | 109 Minuten

Regie: Cate Shortland

Von seinen Eltern entsprechend der NS-Ideologie erzogen, muss ein 15-jähriges Mädchen am Kriegsende ohne Vater und Mutter mit seinen jüngeren Geschwistern auf dem Weg zur Großmutter eine Odyssee durchs zerstörte Deutschland überstehen. Hilfe findet es ausgerechnet bei einem jüdischen Jungen. Für das Mädchen gilt es nicht nur zu überleben, sondern auch sein gesamtes bisheriges Weltbild zu überdenken. Das eindringliche Porträt einer Heranwachsenden, deren Konfrontation mit der Wirklichkeit ihre Loslösung von einer menschenverachtenden Ideologie bewirkt. Road Movie und Coming-of-Age-Geschichte verbinden sich durch eine suggestive Bildsprache und die mitunter fast lyrische Erzählweise zum intensiven Drama. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LORE
Produktionsland
Deutschland/Australien/Großbritannien
Produktionsjahr
2012
Produktionsfirma
Rohfilm/Porchlight Films/Edge City Film
Regie
Cate Shortland
Buch
Robin Mukherjee
Kamera
Adam Arkapaw
Musik
Max Richter
Schnitt
Veronika Jenet
Darsteller
Saskia Rosendahl (Lore) · Nele Trebs (Liesel) · André Frid (Günter) · Mika Seidel (Jürgen) · Kai Malina (Thomas)
Länge
109 Minuten
Kinostart
01.11.2012
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Road Movie
Externe Links
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Diskussion
Die Rückkehr ihres Vaters hat sich die 15-jährige Lore anders vorgestellt: als Krönung des ersehnten „Endsiegs“, auf den sie selbst noch kurz vor dem „Zusammenbruch“ alle ihre Hoffnungen gesetzt hatte. Im Mai 1945 scheint die privilegierte Schwarzwälder Idylle, in der die Tochter strammer Nazis aufgewachsen ist, noch heil. Dann erreicht die Nachricht von Hitlers Tod die Peripherie und löst Panik aus. Der Vater schafft es zwar aus Weißrussland zurück, ähnelt aber in seiner SS-Uniform eher einem seelischen Wrack als dem fanatischen Kämpfer von einst. Nach hektischem Kofferpacken und Verbrennen aller Hinweise auf die Komplizenschaft mit dem kollabierten Regime versucht die Familie, sich durch die verschiedenen Zonen zur Großmutter durchzuschlagen. Auf dem Weg nach Norddeutschland zieht der Vater in seinen letzten Kampf, und die Mutter lässt sich verhaften. Lore muss die Verantwortung für ihre vier jüngeren Geschwister, darunter auch ein Säugling, übernehmen. Die Flucht durch das besiegte Deutschland gerät für sie zu einer Reise in die Hölle einer bisher unbekannten Parallelwelt fern der Ideologie, als sie immer mehr erkennen muss, dass ihr bisheriges Wertesystem angesichts von Gewalt, Tod, Hunger, Chaos und des ethischen Bankrotts nicht aufrecht zu erhalten ist. Das indoktrinierte Täterkind schwankt zwischen Desillusionierung und Phasen verzweifelten Unglaubens, zumal die meisten Deutschen um sie herum die ihnen vorgeworfenen Verbrechen als Propaganda abtun. Sie sieht sich nicht nur mit Leichenbergen und lebenden Skeletten konfrontiert, Bildern, die von den Alliierten auf Plakatwänden angebracht werden. Ausgerechnet ein junger KZ-Häftling mit einem jüdischen Pass schließt sich der tief verunsicherten Kindergruppe an. Obwohl er ihnen aus lebensbedrohlichen Situationen hilft, steigen in Lore immer wieder die antrainierten Abwehrreflexe auf. Sie sieht in ihm nicht den Schutz spendenden Retter, sondern den minderwertigen „Parasiten“, der sie auf irritierende Weise erotisch anzuziehen scheint. Die Australierin Cate Shortland („Somersault“, fd 37 051) hat für ihre Verfilmung von Rachel Seifferts preisgekrönter Novelle „Die dunkle Kammer“ einen lyrischen Ton gewählt, der die grausame Initiation der von Saskia Rosendahl intensiv und bemerkenswert ungeschützt agierenden Heldin in eine irreale Traumsphäre entrückt. Selbst Schönheit kommt in der stilsicheren Inszenierung der apokalyptischen Übergangsphase vor, in warm leuchtenden Farben und Momenten des kurzen Vergessens inmitten einer in sich ruhenden Natur. Dem Genre nach eine Mischung aus Road Movie und Coming-of-Age-Drama, macht der trotz aller traumatischen Erlebnisse leise Film den Selbstbehauptungswillen einer ambivalenten und tief verstörten Figur sichtbar, die sich urplötzlich von den Wahrheiten ihrer Kindheit verabschieden muss. Glühende Bildeinfälle des Kameramanns Adam Arkapaw und die fein abgestimmten Tempowechsel küren diese atmosphärisch aufgeladene Entnazifizierungsgeschichte zu einem Kleinod. Am Ende zieht Lore einen symbolischen Schlussstrich. Sie widersetzt sich der Großmutter, die fern des kollektiven Scherbenhaufens zur Tagesordnung übergeht und die Kinder mit sinnentleerter Disziplin traktiert. Die um Jahre gealterte Enkelin zerstört darauf ihre Sammlung kitschiger Porzellanfiguren, deren vorgeheuchelte Unschuld sie nicht mehr erträgt, und läutet damit die Zeit der Abrechnung ein. Dass ihre Läuterung zum Schluss ein wenig zu signalträchtig gerät, ist die einzige Schwäche des lange nachhallenden Geschichtsdramas.

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