Drama | Frankreich/Belgien 2011 | 112 (24 B./sec.)/108 (25 B./sec.) Minuten

Regie: Pierre Schoeller

Der französische Verkehrsminister eilt zu einem Busunglück in den Ardennen, was ihm die Aufmerksamkeit der Medien, aber auch die Rivalität seiner Kabinettskollegen sichert. Sein Engagement gegen die Privatisierung der Bahnhöfe befördert ihn in höchste Sphären, droht ihn anderntags aber auch zu zerschmettern. Mit hohem Tempo und wohltuend direktem Zugriff seziert das bissige Drama das Leben eines Politikers, der sich zwischen den Zwängen einer omnipräsenten (Medien-)Öffentlichkeit und den Ränkespielen der Macht zu verlieren droht. Ein energetischer, virtuos inszenierter und fotografierter Film, der die Chiffren des Genres meidet und in Tuchfühlung mit den realen politischen Verhältnissen bleibt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
L' EXERCICE DE L'ETAT
Produktionsland
Frankreich/Belgien
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Archipel 35/Les Films du Fleuve/France 3 Cinéma/RTBF/Belgacom
Regie
Pierre Schoeller
Buch
Pierre Schoeller
Kamera
Julien Hirsch
Musik
Philippe Schoeller
Schnitt
Laurence Briaud
Darsteller
Olivier Gourmet (Bertrand Saint-Jean) · Michel Blanc (Gilles) · Zabou Breitman (Pauline) · Laurent Stocker (Yan) · Sylvain Deblé (Martin Kuypers)
Länge
112 (24 B.
sec.)
108 (25 B.
sec.) Minuten
Kinostart
22.11.2012
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
Die Leinwand vibriert förmlich, wenn der (noch nicht identifizierte) französische Verkehrsminister Saint-Jean die Angstlust seiner nächtlichen Fantasien durchlebt. Schwarz vermummte Kapuzenmänner wandeln in ballettartigem Stakkato durch einen feudalen Herrschaftsraum, arrangieren das Mobiliar der Macht und führen eine aufreizend nackte Frau in den Salon, die sich widerstandslos einem monströs-trägen Krokodil zum Fraß vorwirft. Just in diesem Moment reißt das Handy den Träumenden aus seiner Erregung. In den Ardennen ist ein Bus mit Schulkinder verunglückt: Zehn Tote, mehrere Vermisste. Saint-Jean müsse dorthin, der Hubschrauber sei startklar. Erst jetzt entspannt die Kamera und beobachtet still, wie Saint-Jean sich aufrappelt und mit Eiswürfeln die Müdigkeit bekämpft. Ein Tempowechsel, der in Pierre Schoellers hochenergetischer Polit(iker)-Studie mehrfach variiert wird. Denn „L’exercice de L’état“, so der prägnante Originaltitel, blickt in gewisser Weise aus dem Auge des Hurrikans auf das entfesselte Geschäft der Politik, wobei sich die Inszenierung mit furioser Entschiedenheit daran macht, den aktuellen Strukturwandel der Öffentlichkeit zu analysieren. Denn der Besuch des Unglücksortes dient weder der Information des Ministers noch dem Beistand der Angehörigen, sondern allein dem Image, auch wenn ihn die Konfrontation mit den Toten durchaus nicht kalt lässt. Saint-Jean ist kein Zyniker, doch er versteht sich fast instinktiv darauf, sein rhetorisches Geschick medial perfekt in Szene zu setzen. In dieser Kunst versuchen sich allerdings auch andere, etwa sein Gegenspieler, der Finanzminister Peralta, der Saint-Jeans Abwesenheit ausnutzt, um seine Agenda, die Privatisierung der staatlichen Bahnhöfe, zum Tagesthema zu machen. Das ist eine offene Kriegserklärung, denn Saint-Jeans noch junger politischer Höhenflug gründet darin, dass er die Konflikte mit den Gewerkschaften bislang in Zaum halten konnte. Die hektische Betriebsamkeit, die Peraltas Attacke bei Saint-Jean auslöst, nutzt der Film in einer beklemmend kammerspielartigen Sequenz, um das ganze Dilemma der digital vernetzten Politik auszubreiten. Während das Dienstauto nach Paris zurückjagt, glühen die Drähte; der Minister hantiert mit drei Telefonen gleichzeitig, wobei jeder seiner Schritte fast zeitgleich andere Mitspieler auf den Plan ruft, die ihrerseits mögliche Reaktionen ihres Gegenübers zu antizipieren versuchen. Mit hohem Tempo und einem wohltuend direkten Zugriff skizziert Schoeller das Leben des Ministers zwischen den Zwängen einer omnipräsenten (Medien-)Öffentlichkeit und den Ränkespielen hinter den Kulissen der Macht, wo Eitelkeiten, Super-Egos, Loyalität und Kalkül unentrinnbar miteinander verbunden sind. Saint-Jean ist gegen die Privatisierung, seine Partei gespalten, der Ministerpräsident unentschlossen; doch ein unachtsamer Moment genügt, und schon scheint sich die (politische) Welt gegen ihn verschworen zu haben. Kompromiss oder Demission, lautet die Alternative – zumindest bis zum nächsten Telefonat. Es fällt nicht ganz leicht, bei diesem Flipperspiel aus Namen, Institutionen, Finten und Rankünen den Überblick zu behalten, was in seiner forcierten Mechanik allerdings durchaus intendiert erscheint; umso deutlicher sind deshalb mehrere Subplots herausgearbeitet, die etwa um den Langzeitarbeitslosen Kuypers kreisen, den Saint-Jean (Achtung: Imagegewinn!) als Ersatzfahrer beschäftigt, oder den sphinxhaften Ministerialdirigenten Gilles, der wie eine Spinne im Zentrum des Ministeriums residiert und insgeheim die Fäden zieht. Während die Figur des schweigsamen Kuypers den Plot an die alltägliche Welt „normaler“ Menschen bindet, verdichtet sich in Gilles die aristokratische Differenz der französischen Eliten. Einen wesentlichen Anteil am Gelingen dieser furiosen, scharfzüngigen „Tour de Politique“ trägt der belgische Hauptdarsteller Olivier Gourmet bei, der in einer grandiosen Performance den Spagat zwischen den unterschiedlichsten Sphären meistert und dabei zu einer so nuancierten Hochform aufläuft, dass man den eher verhaltenen Stammschauspieler der Dardenne-Brüder kaum wiedererkennt. Wegweisend und nachgerade spektakulär an dieser bildmächtigen, bisweilen hart an die Ästhetik von Horrorfilmen grenzenden Studie über Macht und Menschlichkeit ist der erfolgreiche Versuch, sich nicht auf die herkömmlichen Chiffren politischer Dramen zu beschränken, sondern in Tuchfühlung mit den realen politischen Verhältnissen ein dichtes Netz aus Detailbeobachtungen, Alltagsdingen und Traumsequenzen zu weben. Der Film ist ein harsches, packendes Drama, das mit analytischem Verstand und inszenatorischer Verve ein zeitgemäßes Bild des Politischen entwirft, ohne die Bodenhaftung zu verlieren. Wie schade, dass man Vergleichbares vom deutschen Filmschaffen so gar nicht erwarten kann.
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