Drama | Frankreich 2012 | 106 (24 B./sec.)/101 (25 B./sec.) Minuten

Regie: François Ozon

Ein frustrierter Gymnasiallehrer wird auf einen Schüler aufmerksam, der in einem Aufsatz anschaulich schildert, wie er sich bei einem Mitschüler einschmeichelt, um dessen Familie und insbesondere die Mutter zu beobachten. Der Pädagoge lässt sich von der literarischen Qualität der voyeuristischen Erzählung betören und assistiert beim fortgesetzten Ausspionieren des fremden Kosmos, wobei die Grenzen zwischen Fiktion und Realität immer stärker verschwimmen. Die zwischen Thriller und Satire balancierende "unzuverlässige" Erzählung steigert raffiniert die Drehungen und Wendungen und verdichtet sich zur ebenso subtilen wie klugen Reflexion über das (filmische) Erzählen. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
DANS LA MAISON
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2012
Produktionsfirma
Mandarin Cinéma/FOZ/Mars Films/France 2 Cinéma
Regie
François Ozon
Buch
François Ozon
Kamera
Jérôme Alméras
Musik
Philippe Rombi
Schnitt
Laure Gardette
Darsteller
Fabrice Luchini (Germain) · Ernst Umhauer (Claude) · Kristin Scott Thomas (Jeanne) · Emmanuelle Seigner (Esther) · Denis Ménochet (Rapha senior)
Länge
106 (24 B.
sec.)
101 (25 B.
sec.) Minuten
Kinostart
29.11.2012
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Thriller
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Concorde (16.9, 1.78:1, DD5.1 frz./dt., dts dt.)
Verleih Blu-ray
Concorde (16.9, 1.78:1, dts-HDMA frz./dt.)
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Diskussion
Das Foyer einer Schule, ein Konferenzzimmer, mit dem man den Geruch von schlechtem Maschinenkaffee verbindet: Die ersten Filmbilder sind von den stumpfen Farbtönen bestimmt, die Gebäudefassaden, Wänden und Böden eigen ist – und die sich ganz ähnlich im fahlen Gesicht des frustrierten Gymnasiallehrers Germain wieder finden. Es ist eine beengte, wenig attraktive Umgebung, in der „In Ihrem Haus“ seinen Anfang nimmt. Doch bei einem Film von François Ozon kann man gewiss sein, dass der Regisseur bald Mittel und Wege finden wird, den realen Raum zu vergrößern und ihm mehr Farbe und Glanz zu verliehen. Etwa durch die Imagination. Germain arbeitet als Französisch-Lehrer am Lycée Gustave Flaubert – ein Name, der viel zu schön klingt für die Realität seines mittlerweile doch eher trostlosen Berufs. Vor allem mag sich Germain nur schwer mit der sprachlichen Verkümmerung seiner Schüler abfinden, die ihre Wochenenderlebnisse nur mehr in stammelnden Satzresten zu Papier bringen: Pizza und Handy, viel mehr gibt es da nicht. Umso mehr reißt ihn der Aufsatz des eher unauffälligen Claude aus seiner enervierenden Korrektur-Routine. Dabei sind es weniger die sprachliche Ausnahmequalität dieses Schülerwerks und der beißende Humor, die Germains Aufmerksamkeit erregen, als vielmehr die voyeuristische, den Leser zum Komplizen machende Erzählperspektive. Claude schildert detailliert, wie er sich das Vertrauen eines Mitschülers erschleicht, um sich Zutritt in dessen Elternhaus zu verschaffen; dabei schließen seine Beschreibungen auch eine erotisierende Nahsicht auf Rapha Artoles Mutter ein, eine Frau, die laut Claude den „eigentümlichen Duft einer Frau aus der Mittelschicht“ ausströmt. Germain ist gleichermaßen schockiert und fasziniert, auch weil der Aufsatz mit „Fortsetzung folgt“ schließt – ein Versprechen, dem sich Germain kaum entziehen kann. Als Claude ihm unaufgefordert das nächste „Kapitel“ vorlegt, reagiert er ablehnend, doch schon nach kurzer Zeit nimmt er die Rolle des literarischen Mentors ein: Er ermuntert seinen Schüler nicht nur zum Weiterschreiben, sondern initiiert auch dessen weiteres, ungehemmtes Eindringen in das Haus und das Leben der Artoles. Auch stiftet er Claude zu Handlungen an, die vorgeblich der Dramaturgie und Figurenzeichnung geschuldet sind, tatsächlich aber Verwirrungen und Krisen bei den Beteiligten auslösen. Für Germain, der selbst auf eine Vergangenheit als gescheiterter Schriftsteller zurückblickt, sind Claudes Fortsetzungsgeschichte und die gemeinsame Arbeit daran ein vitalisierendes Abenteuer, das sich zur wahren Obsession auswächst – eine Kompensation für sein eigenes Scheitern, seine verpassten Erlebnisse und Erfolge. Umgekehrt wird das Haus der Artoles, die ihre Abende mit Sportfernsehen verbringen, während die Mutter in Wohnzeitschriften blättert, für das Arbeiterkind Claude zur idealen Projektionsfläche für sein Begehren nach bourgeoiser Zugehörigkeit. Claudes Erzählung stellt Ozon als Film im Film dar, eine mit Suspense aufgeladene Bebilderungsebene, die sowohl das tatsächlich Erlebte wiedergeben könnte als auch die reine Fiktion (oder auch ihre Mischformen). Ozon hat in der Vergangenheit schon mehrfach die Ununterscheidbarkeit von Wirklichkeit und Fiktion als zentralen Motor seiner Erzählungen eingesetzt, etwa in Filmen wie „Swimming Pool“ (fd 36 089), „Unter dem Sand“ (fd 35 132) oder auch „Angel“ (fd 38 263). Was mitunter zum kalkulierten „An-der-Nase-Herumführen“-Trick geriet, wird hier um zahlreiche raffinierte Drehungen und Wendungen gesteigert, wobei die Konstruktion des Ganzen mit all ihren Fallen immer evident bleibt – auch wenn man selbst gelegentlich hereinfällt. So taucht etwa Germain als ganz „reale“, für die anderen aber unsichtbare Figur in Claudes Erzählung auf, um ihm hilfreiche Ratschläge zu erteilen, oder auch, um eine triviale Wendung in der Geschichte zu beanstanden. Claude wiederum wandelt als Erzähler in einer geschützten Position durchs Haus, beobachtet vom Türrahmen aus, späht in Schlafzimmer oder wühlt in Schubladen, ohne dabei ertappt zu werden. Die filmische Wirklichkeit oder das, was man für diese hält, entgleitet immer mehr, bis das Knäuel aus Realität und Imagination (und das aus Thriller und Satire) schlichtweg nicht mehr zu entwirren ist, was das Vergnügen aber erst richtig ausmacht. Ein bisschen gleicht „In ihrem Haus“ der Arbeit zweier in produktivem Austausch begriffener Drehbuchautoren, die mal diese, mal jene narrative Wendung austesten; womit der Film auch zur Reflexion über das Geschichtenerzählen und Filmemachen überhaupt wird, über die Manipulationen, die mit jeder Form von Erzählung zwangsläufig verbunden sind. So kehrt Ozon in gewisser Weise Jean-Luc Godards Diktum der „24 Bilder pro Sekunde Wahrheit“ ins absolute Gegenteil um: Film ist Lüge und nichts anderes.

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