Dokumentarfilm | Deutschland 2012 | 68 (24 B./sec.)/65 (25 B./sec.) Minuten

Regie: Thomas Heise

Beobachtungen aus dem Rhein-Taunus-Krematorium Dachsenhausen in der Nähe von Koblenz. Konzentriert, unaufgeregt. Kein Insert und kein Kommentar weisen den Weg. Die Kamera dokumentiert das Geschehen und schaut den Arbeitern zu, verfolgt die Abläufe in dem unübersichtlichen Gebäude zumeist aus einer beobachtenden Distanz, vermeidet jeden Anflug von Voyeurismus und macht sich auch nur höchst selten selbst zum Thema. Eine kontemplative Meditation, die viel Raum zum Nachdenken lässt. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2012
Produktionsfirma
Blinker Filmprod./WDR/ARTE
Regie
Thomas Heise
Buch
Thomas Heise
Kamera
Robert Nickolaus
Schnitt
Mike Gürgen
Länge
68 (24 B.
sec.)
65 (25 B.
sec.) Minuten
Kinostart
21.03.2013
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
In „Diamantenfieber“ (fd 17 627) schmuggelte James Bond unter dem Tarnnamen Peter Franks Diamanten in einem Leichnam in die USA. In einem Bestattungsinstitut namens „Slumber Inc.“ in der Wüste Nevadas vergingen kaum zwei Minuten zwischen der Einäscherung des Sarges und der Übergabe der Urne: eine saubere Sache, fast automatisch, mit zwei, drei Knopfdrücken und Musik aus der Konserve. Der Dokumentarfilmer Thomas Heise schaut in „Gegenwart“ genauer hinter die Kulissen eines solchen Krematoriums und gibt seine Erkenntnisse nahezu ungefiltert an den Zuschauer weiter: kein Insert und kein Kommentar weisen den Weg des Blicks und der Gehörs. Man muss sich selbst ein Bild machen. Obschon: Schaut man wiederholt auf „Gegenwart“, findet sich (fast) alles. Beginnend mit einer tief winterlichen Exposition (zu dem Lied „Die Blümelein sie schlafen“ von Johannes Brahms) beobachtet man Menschen bei ihrer Arbeit. Böden werden gewischt, Türen gereinigt, Tische gerückt, Maurerarbeiten erledigt. Es dauert einige Zeit, bis klar wird, worum sich die routinierten Aktivitäten der Menschen drehen. Dann kommen die ersten Särge ins Bild, die von der Ankunftshalle zum Aufenthaltsraum und von dort zum Ofen transportiert werden. Die Särge müssen für das Einäschern präpariert werden; auch auf ihren Inhalt muss noch einmal ein kontrollierender Blick geworfen werden. Die Kamera verfolgt die Abläufe in dem unübersichtlichen Gebäude zumeist aus einer beobachtenden Distanz, vermeidet jeden Anflug von Voyeurismus und macht sich auch nur höchst selten selbst zum Thema, wenn sie beispielsweise auf einen Sarg platziert wird, der durch die Gänge geschoben wird. Oder, wenn sie kurz vor Schluss durch einen langsamen 360- Grad-Schwenk gegen die Laufrichtung der Menschen eine große Anzahl neuer Holzsärge in den Blick nimmt, die auf ihre Abfertigung warten. Für Nachschub ist gesorgt, könnte die Pointe des Films lauten: ein krisensicherer Job. Die Arbeiter selbst agieren weitgehend ohne Rücksicht auf die Kamera; nur einmal teilt einer direkt in die Kamera mit, dass er schon 60 Jahre diesen Job mache; der junge Kollege könnte sein Enkel sein. Obwohl manche Arbeitsvorgänge vollautomatisiert ablaufen und von einem Bildschirm aus kontrolliert werden, erstaunt der hohe Anteil an körperlicher Arbeit. Die Menschen gehen ihrer Tätigkeit derart routiniert und konzentriert nach, dass man mitunter den Eindruck gewinnt, man wohne – auch aufgrund der Tiefe der Räumlichkeiten – einer ausgeklügelten Choreografie bei. Dies gilt umso mehr, als bei der Arbeit – und selbst in den Pausen – kaum miteinander geredet wird. Dafür darf hier am Arbeitsplatz noch geraucht werden. „Gegenwart“ lässt dem Zuschauer viel Raum, um eigene Beobachtungen zu machen. So trägt einer der Arbeiter ein „Life’s a bitch“-Tattoo am Arm. Der auf dem Tisch liegende Christstollen und die Kaffeebecker mit Weihnachtsmotivik lassen auf die Drehzeit des Films schließen. In den Pressematerialien ist zu lesen, dass der Film zwischen Weihnachten und Neujahr gedreht wurde. Die mittelständische Firma garantiere die „Abfertigung“ eines Toten binnen dreier Tage, was, so Heise, für Bestatter wie Hinterbliebene den Vorteil genauer Planbarkeit biete. Gedreht wurde in den Räumen des Rhein-Taunus-Krematoriums Dachsenhausen in der Nähe von Koblenz. Das erklärt vielleicht das abschließende Lied „Am Rhein“, komponiert von Engelbert Humperdinck, gesungen von Heinrich Schlusnus, nicht aber die verstörenden Bilder vom Karneval in der Stadthalle von Bonn Bad-Godesberg, die Heise seiner Ortsbesichtigung angefügt hat. Natürlich kann man diese Bilder als kommentierenden Hinweis auf die Vergänglichkeit deuten, auch im Blick auf Heises Kommentar, dass es die routinierte Abwicklung eines Todesfalls den Hinterbliebenen erleichtere, „rasch in den Alltag eigener Produktivität zurückzufinden“. Andererseits hat man eine Stunde lang Menschen bei ihrer kaum vergnüglichen, aber sehr diszipliniert und mit Würde verrichteten Arbeit zugesehen, dass man es geradezu mit der Angst bekommt, wenn man sieht, wie viel Anstrengung es bedeutet, wenn man in der fünften Jahreszeit kollektiv vergnügt sein will.
Kommentar verfassen

Kommentieren