Der Tag wird kommen (2012)

Komödie | Frankreich/Belgien/Deutschland 2012 | 92 Minuten

Regie: Gustave Kervern

Ein älteres Ehepaar lädt seine beiden Söhne zum Essen ein. Der eine ist ein Streuner, der andere ein spießiger Normalo, der sich nach dem Verlust seines Jobs seinem Bruder anschließt. Fortan proben sie als alterndes Punk-Duo "Not & Dead" den Aufstand. Stan Laurel und Oliver Hardy in postmodern-philosophischem Punkrock – und das mit bissig-vergnüglichem Ergebnis. Die einzelnen Sequenzen sind wie in Stummfilm-Komödien nur lose verknüpft, mit sichtbaren Brüchen. Zwischendurch gibt es Punkrock-Konzerte mit Stagediving von der Bühne; die Brüder werden gewissermaßen in den nächsten Sketch getragen. Die absurde, sitcomartige Komödie spießt in loser episodischer Folge die Saturiertheit des bürgerlichen Lebens auf, ohne dabei überheblich zu werden. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LE GRAND SOIR
Produktionsland
Frankreich/Belgien/Deutschland
Produktionsjahr
2012
Produktionsfirma
GMT Prod./No Money Prod./Panache Prod./La Compagnie Cinématographique/arte France Cinéma/WDR-ARTE/Beta Film
Regie
Gustave Kervern · Benoît Delépine
Buch
Gustave Kervern · Benoît Delépine
Kamera
Hugues Poulain
Schnitt
Stéphane Elmadjian
Darsteller
Benoît Poelvoorde (Benoît Bonzini, alias NOT) · Albert Dupontel (Jean-Pierre Bonzini, alias DEAD) · Brigitte Fontaine (Marie-Annick Bonzini, die Mutter) · Areski Belkacem (René Bonzini, der Vater) · Bouli Lanners (Wachmann)
Länge
92 Minuten
Kinostart
02.05.2013
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Komödie
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Alamode (16:9, 2.35:1, DD5.1 frz./dt.)
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Diskussion
Ein Gabelstapler fährt eine idyllisch gewundene Landstraße entlang, im Hintergrund drängt sich ein Dorf. Keine Menschenseele ist zu sehen, außer zwei alternden Punks. Der eine, im zerfetzen Anzug, steuert das Gefährt, der andere hat es sich in der Ladekiste bequem gemacht. Das französische Regie-Duo Gustave Kervern und Benoît Delépine platziert die Punks dort, wo sie im wirklichen Leben selten zu finden wären: in einem suburbanen Einkaufszentrum. Die konsumgesättigte Gleichgültigkeit, auf die das Brüderpaar dort stößt, könnte kaum größer sein. Der Landausflug der Brüder ist nur eine kurze Eskapade, die weiterführenden philosophischen Ausschweifungen geschuldet ist. Wo sind nur die Menschen, fragen sich die beiden. „Nicht auf den Feldern, nicht in den Fabriken“, bemerkt der Eine in Anspielung auf Peter Kropotkins anarchistisches Standardwerk „Fields, Factories and Workshops“. „Und in der Kirche auch nicht“, ergänzt er. Die Menschen seien schlicht zu Hause, konstatiert das Brüderpaar bei seinem Spaziergang. So wird mit konsequent selbstironischem Ton das Spießbürgertum in seiner suburbanen Entfremdung kritisiert, aber es werden auch die Bequemlichkeiten der kleinen Privatanarchie stets augenzwinkernd vorgeführt. Kervern und Delépine erzählen sitcomartig-episodisch. Die einzelnen Sequenzen sind wie in Stummfilm-Komödien nur lose verknüpft, mit sichtbaren Brüchen. Zwischendurch gibt es Punkrockkonzerte mit Stagediving von der Bühne; die Brüder werden von dort gewissermaßen in den nächsten Sketch getragen. Sie wachen irgendwo auf, und weiter geht es, geradeaus: über die Zäune und durch die Häuser einer Vorstadtsiedlung etwa. Wie sich das für mythologische Motive gehört, sind die Brüder denkbar unterschiedlich. Filmisch manifestiert sich das in einer sehr lakonischen, in angemessen überdehnter Langsamkeit ausgekosteten Szene: Die Beiden sitzen im Restaurant des Vaters, dem Kartoffelpalast inmitten des Einkaufszentrums, gemeinsam mit ihm am Tisch und reden pausenlos auf ihn ein. Während der vermeintliche Spießer Jean-Pierre über Plasmabildschirme und Heimkinoanlagen räsoniert, faselt der Punk Benoît alias „Not“ von Vögeln, die auf einem Bein schlafen und den Schwierigkeiten des freien und ungebundenen Lebens. Nach einem Nervenzusammenbruch verliert der extrem unter Leistungsdruck stehende Matratzenverkäufer Jean-Pierre seinen Job und wird von seinem Bruder fürsorglich unter die Fittiche genommen: „Not“ tätowiert Jean-Pierre „Dead“ auf die Stirn, schneidet ihm eine Irokesen-Frisur und führt ihn mit einem Schnellkurs ins süße Nichtstun ein. Er zeigt ihm, wie man richtig bettelt, zwischen Unterwürfigkeit und Stolz (am besten mit mitleidserregendem Hund), den ziellosen Gang mit schlenkernden Armen und die praktisch alles erfassende Anti-Haltung. „Dead“ wiederum schafft es, bei „Not“, dem selbsternannten „ältesten Punk Europas mit Hund“, eine neue anarchische Begeisterung zu wecken, inklusive der Lust auf eine Revolte im Einkaufszentrum. Doch am Abend – der französische Originaltitel „Le Grand Soir“ spielt auf die vorrevolutionäre Stimmung an – will sich niemand auf dem Parkplatz einfinden. Das „Empört euch!“ der Brüder verhallt ungehört. Selbst der Sicherheitsdienst hinter den Überwachungsbildschirmen interessiert sich nur beiläufig für die exotischen Objekte im Einkaufsparadies. Als Jean Pierre sich nach dem Verlust seines Jobs mit Benzin übergießt und, „Gerechtigkeit!“ brüllend, sich selbst anzündet, löst er lediglich die Sprinkleranlage aus. Humor beweist der Film schon bei der Besetzung: Es gibt einen ebenso albernen wie witzigen Auftritt von Gérard Depardieu als Wahrsager, der die Zukunft aus Sake liest; die Mutter der beiden Punk-Söhne wird, sphärisch-ätherisch, von der französischen Punk-Pionierin Brigitte Fontaine verkörpert. „Not“ mimt der belgische Schauspieler Benoît Poelvoorde, dessen Regiedebüt „Mann beißt Hund“ (fd 30 120) ist ein Klassiker des schwarzen Humors. Gemeinsam mit Albert Dupontel als „Dead“ transponiert Poelvoorde Stan Laurel und Oliver Hardy in postmodern-philosophischen Punkrock – mit bissig-vergnüglichem Ergebnis. „Wohin können wir gehen?“ sagt der eine Bruder zum anderen, und: „Wir hatten keine Zukunft, jetzt haben wir keine Vergangenheit.“ Der antwortet: Ich habe Dir doch gesagt, dass es das Beste ist, nicht zu denken. Fahre geradeaus. Lebe in der Gegenwart.“
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