Drama | Österreich/Deutschland 2012 | 112 (24 B./sec.)/107 (25 B./sec.) Minuten

Regie: Barbara Albert

Eine Germanistik-Studentin wird aus der Bahn geworfen, als sie erfährt, dass ihr Großvater als SS-Mann in Auschwitz diente. Sie macht sich auf eine Spurensuche nach dem Ausmaß der Schuld. Mit bewegter Kamera folgt der Film den Suchbewegungen seiner Protagonistin und lässt sich auf eine spannungsvolle Auseinandersetzung mit der Verantwortung für die Verbrechen des Holocaust ein. Auch wenn dabei einige Unschärfen bleiben, gelingen ihm wichtige Denkanstöße, die unter die Haut gehen. Überzeugend ist er auch als Auseinandersetzung mit den Stereotypen der Erinnerung und des Vergangenheitsdiskurses, etwa Verdränger-Sätzen wie "Die Vergangenheit muss man auch mal ruhen lassen." (Teils O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
DIE LEBENDEN
Produktionsland
Österreich/Deutschland
Produktionsjahr
2012
Produktionsfirma
coop 99/Alex Stern Film /Komplizen Film
Regie
Barbara Albert
Buch
Barbara Albert
Kamera
Bogumil Godfrejów
Musik
Lorenz Dangel
Schnitt
Monika Willi
Darsteller
Anna Fischer (Sita) · Hanns Schuschnig (Gerhard Weiss) · August Zirner (Lenzi, Sitas Vater) · Itay Tiran (Jocquin) · Winfried Glatzeder (Michael Weiss)
Länge
112 (24 B.
sec.)
107 (25 B.
sec.) Minuten
Kinostart
30.05.2013
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
Ein rätselhafter Beginn: Ein Fernsehteam dreht Interviews, für eine billige Casting-Show namens "Supertalent". Unter den talentlosen Interviewpartnern ist ein Jüngling, der ein frivoles, ihm selbst nur ansatzweise bewusstes Spiel mit abgründigen Gewaltfantasien treibt. Dann sieht man ein junges Mädchen, das offenkundig von kaum verarbeiteten traumatischen Erfahrungen in einem osteuropäischen Bürgerkrieg gequält wird. Erst im Verlauf von "Die Lebenden" zeigt sich, dass hier fast alle Themen des Films in so symbolischer wie subtiler Weise anklingen: Gewalt, Trauma, Erinnerung und Verdrängung im Umgang mit Vergangenheiten, die Verführbarkeit junger naiver Menschen, die heutige Medienwelt, der auch der politische Schrecken in erster Linie Entertainment-Material ist. Die Interviewerin entpuppt sich als die Hauptfigur des Films: Sita, eine junge, quicklebendige Studentin aus Berlin, die mitten im Leben steht, sich ihr Studium mit dem Fernsehjob verdient und Verstand und Urteilsvermögen mit unbefangener Lebenslust verbindet. Als ihr hochbetagter Großvater stirbt, zu dem sie ein inniges Verhältnis hatte, trifft sie durch einen Zufall auf Spuren aus dessen Vergangenheit, die das positive Bild dieses Großvaters radikal infrage stellen: Offenbar war er im Zweiten Weltkrieg bei der Waffen SS und lebte mit der Familie in Polen. Als Sita beginnt nachzufragen und das bisherige Schweigen ihrer Familie kritisiert, stößt sie auf Widerstand, zugleich verfestigen erste eigene Recherchen noch den Eindruck dunkler Familiengeheimnisse. Im Folgenden wandelt sich der Film zu einem Stationendrama – Wien, Warschau, Siebenbürgen, Berlin – , in dessen Verlauf Sita diesen Geheimnissen auf die Spur kommt und ihr Verhältnis zu ihrem Vater klärt. Auf dieser Passage in die Vergangenheit entdeckt sie auch sich selbst; sie reift an ihr. "Die Lebenden" ist vor allem ein Film über Identität und Erwachsenwerden, sowie über Rolle, die dabei die Vergangenheit spielt. Für die Regisseurin Barbara Albert ("Nordrand", "Böse Zellen") ist dies ein stark autobiographisch inspirierter Film, ausgelöst durch ihre Herkunft aus einer Familie von Siebenbürgern. Alberts Stärke eines direkten, so unbefangenen wie neugierigen Blickes kommt auch diesem Film zugute, ebenso wie die Tatsache, dass kaum eine europäische Regisseurin gekonnter Musik einsetzt: Albert kombiniert Klassisches wie Schubert mit sehr modernen Stücken, spielt Popklassiker und die Elektropop-Version einer Purcell-Arie. Dreimal sieht man Sita tanzen, so wie Alberts Heldinnen in ihren Filmen immer tanzen: Momente von Ausgelassenheit und Befreiung, aber auch des in-sich-Ruhens. Die Kamera ist pulsierend und subjektiv, sehr nahe an der Hauptfigur, und hat mit ihr oft einen suchenden Blick. Auch der Schnitt bringt bewusst eine Form zusätzlicher Unruhe in den Film hinein, die der der Hauptfigur entspricht. All das vermeidet alle Gediegenheit, die Filme mit historischer Thematik oft eigen ist. Geprägt wird der Film daneben insbesondere durch seine Hauptdarstellerin Anna Fischer in ihrer ersten großen Kinohauptrolle. Fischer ist von ungemeiner Direktheit und quecksilbrigem Charme, sie spielt emotional und intuitiv und gibt dem Film so eine ganz diesseitige, zeitgemäße Note – ein wichtiger Kontrast zur Schwere seines Themas. Beeindruckend ist auch Alberts Umgang mit Medien. In einer längeren zentralen Sequenz sieht man Sita vor einem Bildschirm sitzend ein älteres Interview mit ihrem Großvater ansehen. Die Distanz dieser Konstruktion wird hier schnell vergessen gemacht durch die Intensität der Dialogpassagen, in denen in sehr poetischer Sprache Tod, Mord und Sterben zum Thema gemacht werden, die "allerintimste Nähe" zwischen einem Opfer und seinem Mörder beschworen. Ein paar Wendungen der Handlung wirken unnötig und mitunter – ein jüdischer Lover, eine Frau, die Klaus Manns "Der Wendepunkt" liest und eine Herz-OP – allzu "dick aufgetragen", oder auch einfach unglaubwürdig: Dass Sita etwa bei ihrem Warschau-Aufenthalt gleich nach zwei Stunden von einer Gruppe Hausbesetzer-Antiglobalisierungs-Widerständler aufgenommen wird und in deren Wohnung dann das Foto eines Märtyrers für die gute Sache wie ein Heiligenbild an der Wand hängt, wirkt unfreiwillig komisch. Derlei verkompliziert den Film ohne Gewinn. Überzeugend ist der Film aber umso mehr als Auseinandersetzung mit den Stereotypen der Erinnerung und des Vergangenheitsdiskurses. Verdränger-Sätzen wie dem man müsse "die Vergangenheit auch mal ruhen lassen."

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