Drama | Deutschland/Ungarn/Frankreich/Österreich 2013 | 112 (24 B./sec.)/108 (25 B./sec.) Minuten

Regie: János Szász

Jugendliche Zwillingsbrüder werden Ende des Zweiten Weltkriegs zu ihrer Großmutter aufs Land gebracht, wo man sie brutal misshandelt und ausnutzt. Die Jungen beschließen, sich ihrer Haut zu erwehren, indem sie sich durch rigorose Erziehungsmaßnahmen ertüchtigen und sich schmerzunempfindich machen, wodurch sie aber selbst zu Übeltätern werden, die die perversen Strukturen eines mörderischen Systems wiedergeben. Eine kongeniale Verfilmung des Romans von Ágota Kristóf mit ausdrucksvollen Bildkompositionen und einer meisterlichen Lichtführung. Die Romanhandlung wurde sinnvoll gestrafft, wodurch einem manche Perversion und Grausamkeit erspart bleibt; gleichwohl stockt einem angesichts der gezeigten Gefühlskälte und Brutalität oft genug der Atem. Die "bösen Buben", die eigentlich nur nach Wärme und Halt suchen, werden dabei plastisch und greifbar. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
A NAGY FÜZET
Produktionsland
Deutschland/Ungarn/Frankreich/Österreich
Produktionsjahr
2013
Produktionsfirma
Intuit Pictures/Hunnia Filmstúdió/Amour Fou/Dolce Vita Films
Regie
János Szász
Buch
András Szekér · János Szász
Kamera
Christian Berger
Schnitt
Szilvia Ruszev
Darsteller
András Gyémánt (Ein Bruder) · László Gyémánt (Anderer Bruder) · Piroska Molnár (Großmutter) · Ulrich Thomsen (Offizier) · Ulrich Matthes (Vater)
Länge
112 (24 B.
sec.)
108 (25 B.
sec.) Minuten
Kinostart
07.11.2013
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
In die Vorstellung vom bösen Kind hat man über die Jahrhunderte all die hässlichen Missetaten gepackt, welche das Zusammenleben in einer Gesellschaft so beschwerlich machen. Ein böses Kind lügt, ist hochmütig und stolz, es rächt sich, stiehlt, quält Tiere und dergleichen Boshaftigkeiten mehr. Aktuell demaskiert der rumänische Film „Jenseits der Hügel“ (Kritik in dieser Ausgabe) solche Ideen nachdrücklich am Beispiel der orthodoxen Kirche. Günter Grass wiederum nutzte das Motiv in seinem Roman „Die Blechtrommel“ dazu, in der Gestalt seines beeindruckend gemeinen Helden Oskar, der mit drei Jahren beschließt, nicht weiter zu wachsen, die kleinbürgerliche Verstrickung mit dem Nationalsozialismus ohne jedes Mitleid anzuprangern. „Das große Heft“ führt jetzt die Grass’sche Tradition weiter. Wo Grass den Alltag im Nationalsozialismus mit einem panoramenhaft üppigen Strich malt, beobachtet der dem Film zugrunde liegende Roman von Ágota Kristóf aus dem Jahr 1986 die totalitäre Mentalität nüchtern und kühl, in einfachsten Sätzen. Ein Zwillingspaar aus gutem Hause wird während des Zweiten Weltkrieges zur Großmutter aufs Land geschickt, weil die Eltern glauben, dass ihre Kinder dort gut aufgehoben seien. Zum Abschied schenkt ihnen ihr Vater das titelgebende Heft, in dem die beiden ihre Erlebnisse dokumentieren sollen. Doch die Provinz entpuppt sich als ein Ort, wo man erst einmal lernen muss, zu überleben. Die bezopfte, wohlgenährte Großmutter – eine Hexe, die ihren Ehemann vergiftet haben soll – fasst ihre Enkel, die „Hurensöhne“, äußerst grob an. Sie beschimpft sie, schlägt sie und lässt sie auf dem abgelegenen Bauernhof für ihr Essen schuften. Saßen die Kinder bisher an einer schön gedeckten Tafel mit appetitlich angerichteten Speisen, wird ihnen von der Großmutter in ihrer ärmlich-dreckigen Küche nur eine Kartoffelsuppe vorgesetzt. Was die Jungen mit ihrer Ankunft in dem kleinen Nest alles erdulden und mit ansehen müssen, lässt sie aus Selbstschutz schon bald zu einer rigorosen Selbsterziehung greifen. Sie härten sich körperlich ab, üben sich während eines Bombenangriffs in Blindheit und Taubheit, fasten und lernen, grausam zu sein. Dass es den beiden gelingt, sich schmerzunempfindlich zu machen und ungerührt zurückzuschlagen, unterstreicht die kommentierende Erzählerstimme der Zwillinge, die ohne jede innere Beteiligung von den Geschehnissen berichtet. Dabei bilden sie eine Moral aus, die sich einen vernünftigen Anschein gibt, aber um Pflichten gegen andere oder allgemeine Prinzipien nicht schert, sondern selbstherrlich mit gleicher Münze heimzahlt und schließlich nicht einmal vor dem eigenen Vater haltmacht. So jagen die zwei auch die Magd des Pfarrers in die Luft, da sie bei der Räumung des Ghettos den Freund der Jungen, einen Schuhmacher, sadistisch behandelt hat, weil sie Juden für Tiere hält. Doch das Zwillingspaar spiegelt nur, was ihnen von den Erwachsenen vorgelebt wird. Schlaglichtartig werden an ihrem Verhalten Merkmale des totalitären Systems deutlich, die vor allem auf sadomasochistische Charakterstrukturen zurückgeführt werden. Von den zeitgeschichtlichen Ereignissen erfährt man wie nebenbei. Der Kameramann Christian Berger hat die ausdrucksstarken Bilder für die kunstvoll verdichteten Szenen präzise, mit klaren Formen komponiert und durch die Farbgebung subtil akzentuiert. Sie lassen an holländische Genrebilder denken. Wenn zum Beispiel in den Innenräumen im Haus der Großmutter braune Töne vorherrschen und die atmosphärische Lichtführung helle und dunkle Flächen in dramatische Spannung versetzt wie auf einem Caravaggio-Gemälde, werden die bösen Buben, die eigentlich nach Wärme und Halt suchen, für den Zuschauer ganz plastisch und greifbar. Die Romanhandlung wurde für die vorzügliche Verfilmung sinnvoll gestrafft. Dadurch bleibt einem manche Perversion und Grausamkeit erspart, was der Inszenierung hoch anzurechnen ist. Gleichwohl stockt einem angesichts der gezeigten Gefühlskälte und Brutalität oft genug der Atem.
Kommentar verfassen

Kommentieren