Al-khoroug lel-nahar – Coming Forth by Day

Drama | Ägypten/Vereinigte Arabische Emirate 2012 | 96 Minuten

Regie: Hala Lotfy

Zwei Frauen, Mutter und Tochter, pflegen in Kairo gemeinsam den bettlägerigen Ehemann und Vater. Das geht nicht ohne Streit und Vorwürfe vonstatten. Während die Mutter offenbar nur für ihre Arbeit als Krankenschwester das Haus verlässt, streift die Tochter nachts durch die Stadt. In ebenso poetischen wie klar strukturierten und sehr vielschichtigen Bildern erzählt der Debütfilm der ägyptischen Regisseurin Hala Lofty von einem Generationenkonflikt sowie von einer "Lost Generation" – und damit indirekt auch von der Revolution. Ein stiller, konzentrierter, außergewöhnlicher Film. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
AL-KHOROUG LEL-NAHAR
Produktionsland
Ägypten/Vereinigte Arabische Emirate
Produktionsjahr
2012
Produktionsfirma
Hassala Productions
Regie
Hala Lotfy
Buch
Hala Lotfy
Kamera
Mahmoud Lotfi
Schnitt
Heba Othman
Darsteller
Donia Maher (Soad) · Salma Al-Najjar (Mutter) · Ahmad Lutfi (Vater) · Doaa Oreyqat (Mädchen im Kleinbus) · Ahmad Sharaf (Kleinbusfahrer)
Länge
96 Minuten
Kinostart
14.11.2013
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
Die Uhr an der Wand ist stehen geblieben, der Sekundenzeiger bewegt sich nicht. Wohl aber die Gardine vor dem geöffneten Fenster: sie bläht sich im Wind. Der Brustkorb des Mannes, der auf dem Bett liegt, hebt und senkt sich leicht. Die Gardine malt ein Spiel aus Licht und Schatten an die Wand. Hala Loftys Debütfilm „Al-khoroug lel-nahar – Coming Forth by Day“ wirkt wie eine filmische Studie zu Gilles Deleuzes’ Zeit-Bewegungsbild, so überlegt und konzertiert arbeitet die ägyptische Regisseurin mit Licht und Schatten, Raum, Zeit und Bewegung. Exakt die erste Hälfte des Films spielt in der Wohnung, in der Soad gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem pflegebedürftigen Vater lebt. Es sind städtische Geräusche, die von außen nach innen dringen, einzelne Rufe, gelegentliches Hupen. Einmal kräht auch ein Hahn. Die Wohnung liegt nicht im Zentrum Kairos. Der Alltag mit seiner Routine kreist um die Pflege des Vaters: Waschen, füttern, in den Rollstuhl setzen, Medikamente geben, das Bett beziehen. Während die Mutter nachts als Krankenschwester arbeitet, hat die Tochter offenbar keinen Job. Zwischen beiden Frauen schwelt ein Konflikt: Abgekämpft von ihrer nächtlichen Arbeit, die sich tagsüber zu Hause fortsetzt, begegnet die Mutter der Tochter still vorwurfsvoll, während Soad ihrerseits der erschöpften Mutter impulsiv Vorhaltungen macht und ihr Hoffen ganz nach außen richtet. Unter ihrem Laken hat sie ihr Handy versteckt, sie cremt sich die Hände ein, macht sich im Taschenspiegel schön. Solche kleinen Eigenheiten erlauben ihr, für sich selbst zu sein, kleine Fluchten aus dem verhaltenen Zank, der Wut, Ohnmacht und Langeweile des Alltags. In Plansequenzen, langen Einstellungen und Kreisbewegungen folgt der Film den beiden durch die Zimmer und Gänge, bleibt aber oft auf Distanz, blickt ein wenig um die Ecken, fängt eine Spiegelung in der Fensterscheibe ein, verharrt auf der Türschwelle oder im Gang. Die Kamera vermisst dabei stets das Innere der Wohnung, nie geht der Blick nach Draußen, durch die geöffneten Fenster: Erst nach etwa 45 Minuten gibt es eine Totale auf die suburbane Stadt. Dann verlässt Soad die Enge, aber auch die Sicherheit der Wohnung und geht aus: Sie lässt sich beim Friseur das krause Haar glätten, sie hält einen Minibus an, der auf dem Weg zum Tahrir-Platz ist. Ihr Streifzug durch die bald nächtliche Stadt beginnt. Drinnen wie draußen sind die Farben entsättigt, sepiafarben, wie auf einer alten Fotografie. Die alten, einfachen Möbel in der Wohnung passen in dieses Bild. „Al-khoroug lel-nahar – Coming Forth by Day“ wirkt zeitlos mit seiner universalen Geschichte von Leben und Tod, unbestimmter Suche und Verlorenheit, von Selbstaufgabe und der Sicherheit, die die Aufgabe wiederum gewährt. Gleichzeitig berührt der Film mit seinem weit gesteckten Rahmen sehr Gegenwärtiges. Im Bus auf dem Weg zum Tahrir-Platz sitzt Soad neben einer jungen Frau mit Kopftuch. Ein harmloses Gespräch entspinnt sich, das immer bizarrer wird: Die Frau glaubt, sie sei mit einem Fluch belegt worden, besessen. Um die beiden herum, auf den engen Bänken, sitzen nur Männer, die unbeteiligt blicken. Irgendwie ist diese Szene eine pervertierte Reprise auf die Klaustrophobie in der Wohnung, wo sich alles um einen Mann dreht, der schweigt – aber sprechen kann: Als Soad ihren Vater einmal in die Sonne auf dem Balkon schiebt, bemerkt dieser, dass er sich langweile. Sie solle ihn doch wieder ins Bett legen. Die Männer in „Coming Forth by Day“ spielen Nebenrollen, wenn auch sehr zentrale. Der Dialog der beiden Frauen im Bus beginnt nicht umsonst mit dem Kopftuch, das die eine trägt und Soad nicht. Der Stillstand in „Coming Forth by Day“ ist Männersache, die Frauen halten mühsam den Status Quo. Ist dies nicht auch als Metapher auf die Revolution zu lesen: der sieche, hilflose Mann zu Hause im Bett und die unbestimmte Hoffnung auf dem Weg zum Tahrir-Platz? Der Titel dieses außergewöhnlichen Debütfilms entspricht dem eines alten ägyptischen Totenbuchs. Übersetzt lautet er „Heraustreten in das Licht des Tages“.
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