Drama | Italien 2012 | 97 (24 B./sec.)/93 (25 B./sec.) Minuten

Regie: Bernardo Bertolucci

Statt mit seinen Schulkameraden in den Winterurlaub zu fahren, verkriecht sich ein schüchterner 14-Jähriger eine Woche lang im Keller seiner Eltern, wo er zufällig seiner drogensüchtigen Halbschwester begegnet. Nach und nach kommen die beiden ungleichen Geschwister einander näher. Ein im besten Sinn aus der Zeit gefallener Film, in dem Verborgenes bisweilen zaghaft zum Vorschein kommt, nie aber die Grenze des Fantasierten überschritten wird. Was ihn zu einem kleinen cineastischen Meisterwerk macht, ist nicht die Auflösung der Metaphorik, sondern sein atmosphärischer Zauber: Virtuos verwandelt Bernardo Bertolucci das Kellergewölbe eines italienischen Mehrfamilienhauses mit sanft-poetischen Kinobildern in eine surreale Seelenlandschaft. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
IO E TE
Produktionsland
Italien
Produktionsjahr
2012
Produktionsfirma
Fiction Film/Wildside
Regie
Bernardo Bertolucci
Buch
Niccolò Ammaniti · Umberto Contarello · Francesca Marciano · Bernardo Bertolucci
Kamera
Fabio Cianchetti
Musik
Franco Piersanti
Schnitt
Jacopo Quadri
Darsteller
Jacopo Olmo Aninori (Lorenzo) · Tea Falco (Olivia) · Sonia Bergamasco (Arianna, die Mutter) · Veronica Lazar (Großmutter) · Tommaso Ragno (Ferdinando)
Länge
97 (24 B.
sec.)
93 (25 B.
sec.) Minuten
Kinostart
21.11.2013
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama

Diskussion
Wieder einmal zwängt der italienische Altmeister Bernardo Bertolucci einen Mann und eine Frau, genauer: einen 14-jährigen Jungen und seine ein paar Jahre ältere Halbschwester, auf engstem Leinwandraum kammerspielartig zusammen. Statt mit seiner Schulklasse in die Skiferien zu fahren, nistet sich Lorenzo eine Woche lang heimlich im Keller der elterlichen Wohnung ein. Mit Walkman und Laptop zieht sich der verträumte Außenseiter in seine Ich-Welt zurück, bis plötzlich Olivia auftaucht, die drogensüchtige Tochter seines Vaters, Lorenzos Halbschwester, die er kaum kennt. Olivia ist eher unfreiwillig auf Entzug und ohne Bleibe. Lorenzo möchte sie am liebsten sofort wieder loswerden, aber weil sie droht, ihn zu verraten, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich mit ihr zu arrangieren. Dieser konventionelle Teil der Adaption des Romans von Niccolò Ammaniti entwickelt sich recht vorhersehbar. Die beiden kommen einander mit der Zeit immer näher. Ein bisschen zu nahe für Halbgeschwister. Auf Tuchfühlung tanzen Lorenzo und Olivia miteinander im unterirdischen Gewölbe des Mietshauskellers, in den sie sich verkrochen haben. Die Kamera gleitet über ihre Leiber, fängt ihre scheuen, ernsten Blicke ein. Ein andermal erforscht Lorenzo den Körper seiner schlafenden Schwester mit der Lupe. Die unterschwellige erotisch-inzestuöse Anziehungskraft wird in solchen Momenten offensichtlich. Es fällt nicht schwer, Verbindungslinien zu früheren Filmen von Bernardo Bertolucci zu ziehen, zu „Die Träumer“ (fd 36 333) oder seinem furiosen Skandalfilm „Der letzte Tango in Paris“ (fd 18 266). Falsch liegt man damit nicht, aber „Ich und Du“ wird man auf diese Weise allerdings auch nicht unbedingt gerecht. Der entscheidende Unterschied zu den genannten Filmen liegt darin, dass das Verborgene hier zwar bisweilen zaghaft zum Vorschein kommt, aber die Grenze des Fantasierten letztlich nie überschreitet. Das trifft auf die vereinzelten erotisch angehauchten Szenen ebenso zu wie auf den ganzen großen Rest. „Ich und Du“ ist ein im besten Sinne aus der Zeit gefallener Film, der ausklingt, kaum dass sein Protagonist wieder an die Oberfläche und damit die Wirklichkeit des Alltags zurückkehrt. Das Kellerabteil mit der durchgelegenen Matratze, dem staubigen Sofa, den alten muffigen Kleidern aus der Nachkriegs- oder gar Kriegszeit (auch eine Mussolini-Büste taucht zwischendurch auf), all dem Gerümpel und Tand formt einen allegorischen Rückzugsraum. Eine surreale Unterwelt, leicht dechiffrierbar, wenn man möchte, als Architektur des pubertären oder auch kollektiv-italienischen Unterbewussten. Das, was den Film aber zu einem kleinen, abseitigen cineastischen Meisterwerk macht, ist nicht etwa die Auflösung der Metaphorik, sondern der atmosphärische Zauber des Films. Lorenzo, von Jacopo Olmo Antinori wunderbar verschroben und behutsam dargestellt, wickelt sich in den Katakomben der Zivilisation in einen nostalgischen Kokon aus Träumen und Sehnsüchten. Den skurrilen „Coming of Age“-Fantasieraum seiner Metamorphose füllt Kameramann Fabio Cianchetti mit magischem Leuchten. Getragen von einer gemächlichen Montage und einem unaufdringlichen Score führt Lorenzos Abstieg in die bisweilen kafkaesk anmutende Kellerwelt mitten hinein ins Herz des Kinos.
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