Von Caligari zu Hitler

Dokumentarfilm | Deutschland 2014 | 119 (TV 52) Minuten

Regie: Rüdiger Suchsland

Dokumentarische Montage aus Ausschnitten deutscher Kinofilme der Weimarer Republik auf Basis von Siegfried Kracauers vielzitierter Studie „Von Caligari zu Hitler“. Kracauers These, dass mit der zeitgenössischen Faszination für Tyrannenfiguren auf der Leinwand bereits das Nazi-Regime vorweggenommen worden sei, wird dabei kenntnisreich vermittelt und kommentiert. Eine wertvolle Form filmischer Erinnerungsarbeit, die auch heutigen Zuschauern die künstlerischen Innovationen der 1920er-Jahre nahebringen kann, während sie frühere inhaltlich-soziologische Deutungen leicht korrigiert. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
LOOKS Filmprod.
Regie
Rüdiger Suchsland
Buch
Rüdiger Suchsland
Musik
Michael Hartmann
Schnitt
Katja Dringenberg
Länge
119 (TV 52) Minuten
Kinostart
28.05.2015
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Filmessay zum deutschen Kino der Weimarer Zeit

Diskussion
„Ich behaupte“, schrieb Siegfried Kracauer in seiner im New Yorker Exil verfassten „psychologischen Geschichte des deutschen Films“, „dass mittels einer Analyse der deutschen Filme tiefenpsychologische Dispositionen, wie sie in Deutschland von 1918 bis 1933 herrschten, aufzudecken sind (...). Die Aufdeckung dieser Dispositionen könnte dazu beitragen, Hitlers Aufstieg und Machtergreifung zu verstehen.“ Es war sicher nicht leicht für Kracauers Lieblingszielgruppe, die „Ladenmädchen und kleinen Angestellten“, sich der Faszination der Tyrannen und ihrer Vollstrecker zu entziehen, die die Leinwände während der Weimarer Republik beherrschten: die herrschsüchtigen Väter („Metropolis“, 1926), die Vampire („Nosferatu“, 1922), Monster („Der Golem, wie er in die Welt kam“, 1920), Kindermörder („M“, 1931), Übermenschen („Dr. Mabuse, der Spieler“, 1922), somnambulen Frauenmörder („Das Cabinet des Dr. Caligari“, 1920). Kein Kino dieser Zeit war so von Tyrannen bevölkert wie das deutsche. Gleichzeitig zeichnete sich dieses Kino durch eine formale und ästhetische Meisterschaft aus, die die Filmkunst neu definierte. Es war eine Glanzzeit, geprägt von Regisseuren wie Friedrich Wilhelm Murnau, Ernst Lubitsch, Fritz Lang, Drehbuchautoren wie Carl Mayer, Filmarchitekten und Bühnenbildnern wie Hermann Warm, Kameramännern wie Karl Freund und Eugen Schüfftan. Die expressionistische Ära endete Mitte der 1920er-Jahre. Die sich daran anschließende „Neue Sachlichkeit“ ließ die Monster hinter sich und suchte das Leben der kleinen Leute. Nach dem Kino der Beklemmungen konnte sich das gefährdete deutsche Filmpublikum erholen, bei unbekümmerten Filmen wie „Menschen am Sonntag“ (Regie: Robert Siodmak und Edgar G. Ulmer, Drehbuch: Billy Wilder, Kamera: Eugen Schüfftan, Fred Zinnemann, 1930) und „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ (1927). Die unheilvolle politische und gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland konnten sie nicht aufhalten. Der reale Tyrann übernahm die Macht. Das Böse kam nach Deutschland (wie Nosferatu nach Bremen). Hitler wurde am 1. Februar 1933 zum Reichskanzler ernannt. Die Regisseure, die die Tyrannen auf die Leinwand gebracht hatten, mussten das Land verlassen. Sie emigrierten nach Hollywood und wurden zu Stars des Weltkinos. Gibt es einen deutschen Blick? Kann man das Land in seinen Filmen finden? Was weiß das Kino, was wir nicht wissen? Diese Fragen stellt der Journalist und Filmkritiker Rüdiger Suchsland in seiner ersten dokumentarischen Montagearbeit, der er den Titel von Siegfried Kracauers Untersuchung „Von Caligari zu Hitler“ gab. Er bezieht sich dabei auf dessen programmatische Thesen und führt sie in einer etwas zu ausführlichen Kommentierung des Gezeigten fort. Zum Glück sprechen die Bilder für sich. Sie sind es, die sich dem Gedächtnis einprägen, nicht die Inhalte. Peter Lorres Schatten an der Litfaßsäule, Gustaf Gründgensʼ schwarze Lederhandschuhe, Conrad Veidt als Caligaris César, der sich in die Schlafzimmer des Bürgertums schleicht, die Architektur von „Metropolis“, Nosferatu auf der Treppe, Marlene Dietrich auf dem Stuhl („Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“), Mabuse am Steuer, wie er durch die Nacht rast... Ausführliche Filmzitate, ermöglicht durch die Kooperation mit der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, der Deutschen Kinemathek Berlin, dem Deutschen Filminstitut Frankfurt und dem Filmmuseum München machen den besonderen Reiz dieser Dokumentation aus. Sie leistet Erinnerungsarbeit, macht Filmkultur bewusst, holt Vergessenes zurück. Das erlaubt einen neuen Blick auf die innovativen ästhetischen Besonderheiten des Films der Weimarer Republik und korrigiert – 70 Jahre später – die inhaltlich-soziologische Sicht Siegfried Kracauers. So lässt sich auch nachvollziehen, was Volker Schlöndorff, der Protagonist des Neuen Deutschen Films, der nach dem Krieg in Frankreich die Filmkultur suchte (und fand), auf den Punkt brachte: „Im Kino der Weimarer Republik fanden wir endlich die Väter, mit denen wir uns identifizieren konnten.“
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